Georges Perec
"Der Mann der schläft"
Aus dem Französischen von Eugen Helmlé
dtv München 2002
142 S., 7,50 Euro


Bis zu jenem Tag, an dem er beschloss nicht mehr aus seinem Bett aufzustehen und jeden Kontakt mit der Umwelt radikal zu reduzieren, verlief das Leben des Soziologiestudenten so wie das seiner Kommilitonen. Er haust in einer Dachkammer, ernährt sich von Nescafé und Zigaretten und sollte sich eigentlich auf sein Staatsexamen in allgemeiner Soziologie vorbereiten. Doch irgendein dumpfes, nicht klar zu definierendes Gefühl hält ihn zurück, der plötzlichen Trägheit seines Körpers zu widerstehen. Diese Müdigkeit und Schlaffheit verlässt ihn nach nach Stunden nicht, einzig seine Gedanken lassen ihn unablässig seinen ungewohnten Zustand reflektieren. Völlig unvermittelt nimmt er seinen Körper und die Umgebung seiner Dachkammer mit unglaublicher Intensität wahr. So entdeckt er Risse in der Zimmerdecke, die in seiner Phantasie zu unglaublichen Gebilden verschmelzen. Er lauscht auf die Schritte seines Nachbarn und auf die Geräusche der Straße. 
Jede Handlung und sei sie noch so alltäglich wird ihm mit Fortschreiten seiner Einsamkeit immer bewusster. Er verstehe nicht zu leben und in ihm schwinde langsam das Gefühl, zur Welt zu gehören, in ihr zu sein, sagt ihm seine innere Stimme. 
Auch der Aufenthalt bei seinen Eltern lässt seinen Zustand nicht besser werden. Wieder zurück in Paris, irrt er wie ein Fremder planlos durch die Stadt, jeden unnötigen Kontakt meidend. Tage, Wochen des Innehaltens vergehen, ohne das sich sein Zustand bessert. Ein Leben ohne Überraschungen, stellt Perec an einer Stelle des Romans fest. Alles geschieht geplant und ihn vor Unsicherheiten schützend. Ein Leben wie in einem Traum, in welchem die Realität verzerrt wird. Einzelne Handlungen oder Dinge gewinnen an Bedeutung, die vordem im hektischen Alltag untergingen. Die Welt scheint sich langsamer zu drehen und mit ihr die Zeit stillzustehen. 
Es ist beeindruckend mit welcher Klarheit und welchem Feingespür für Details Georges Perec seinen Helden dieses Experiment erleben lässt. In der "Du-Form" geschrieben, vermittelt der Roman das Gefühl unmittelbar am Geschehen teilzunehmen. Der Leser verfolgt gebannt die "Anweisungen" des Erzählers aus dem Hintergrund, wie der Student sich fühlt, was er erlebt, was er denken soll. Es ist dies eine Reise in die Tiefen unseres Bewusstseins, sich stets vergewissernd, was unser Leben ausmacht, welche Rolle wir in dieser Welt spielen.
Letzten Endes lässt Perec den Studenten das Experiment mit der Erkenntnis abbrechen, dass sein Rückzug aus der Welt keinerlei Konsequenzen für den Lauf der Dinge hat. Das Leben geht auch ohne ihn weiter, die Zeit ist nicht stehen geblieben, die Welt, in der lebt, hat sich nicht wesentlich verändert und ihn letztendlich nur anfänglich vermisst. ©Torsten Seewitz, 23.08.2002

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