Thomas Roth 
"Russisches Tagebuch"
List Verlag München 2002
300 S., 21,00 Euro

Als Thomas Roth im Sommer vergangenen Jahres jeden Abend live in den "Tagesthemen" von seiner Russlandreise berichtete, bewies die Resonanz der Zuschauer, dass Reportagen aus den Weiten Russlands noch immer nichts von ihrer Faszination verloren haben. Innerhalb von drei Wochen reiste Roth mit seinem Team vom östlichsten Punkt Sibiriens bis in den europäischen Teil Russlands, nach Moskau. 
Seine Erlebnisse während der 26000 Kilometer langen Reise durch ein Land, das vor allem für uns Westeuropäer eine imaginäre Anziehungskraft besitzt, schildert Roth im nun vorliegenden Reportageband. 
Russland, das sind nicht nur endlose Weiten und riesige Wälder, sondern auch Kälte und raues Klima, Leben in der Abgeschiedenheit, Armut und Elend. 
Es ist interessant zu lesen, welche Bedeutung der gefürchtete Geheimdienst auch heute noch in Russland besitzt. Denn allein wer einen ausländischen Pass besitzt, macht sich schon verdächtig und seien seine Absichten noch so gutmütig. Auch ist der Eindruck, das die Mafia in Teilen des Landes und vor allem in den großen Städten allgegenwärtig ist, nicht auf spekulativem Boden gewachsen, sondern Realität. Bereits beim Chartern des Transportflugzeuges für die weite Reise, zeigte sich, welche Macht Geld und vor allem gute Beziehungen besitzen. Sicherlich ist dies nicht einzig ein russisches Phänomen, doch wenn wichtige Wirtschaftsprozesse im Land über dunkle Kanäle gesteuert werden, scheint dies um so denkwürdiger. 
Allen anfänglichen Hindernissen zum Trotz, konnte die Reise auf dem Militärflughafen von Chabarowsk, im Südosten Russlands gelegen, beginnen. Sie führte Roth und sein Team zuerst in den fernen Osten, nach Lawrentija, einer ärmlichen, heruntergekommenen Siedlung aus Sowjetzeiten. Knapp 1000 Menschen leben unter zum Teil ärmlichsten Bedingungen in der Stadt. Die Häuser sind alt und eigentlich abbruchreif. Weite Teile des Ortes durchziehen Ruinenfelder. Jeder, der irgendwo Geld auftreiben kann, versucht aus der Siedlung zu entfliehen, dies können jedoch die wenigsten. Zu Sowjetzeiten war es lukrativ hier zu leben, denn die sogenannte Nordzulage steigerte den Lohn um das Dreifache. Heute gibt es hier nichts mehr, wofür es sich lohnte, die Strapazen des rauen Klimas auf sich zu nehmen. Besonders fatal ist, dass die Bewohner hier in der Falle sitzen, da sie politisch nicht im geringsten Druck dahingehend ausüben können, dass sich an ihrer Lebenssituation irgendetwas ändert. 
Die Politik, so scheint es, spielt sich nur in Moskau und Petersburg ab. Sibirien ist weit weg und die eingesetzten Gouverneure sind verstrickt in die dunklen Machenschaften der Mafia. 
Dennoch erstaunt, und dies versteht Roth beeindruckend zu schildern, mit welcher Gastfreundschaft Fremden begegnet wird. Und seien die persönlichen Lebensverhältnisse noch so schlecht, dem Gast wird all das aufgetafelt, was die russische Küche an Delikatessen aufzubieten hat. 
Es ist angenehm zu lesen, dass sich Roth in seinem Reisebericht nicht nur auf die Beschreibung der beeinruckenden Landschaft oder der katastrophalen gesellschaftlichen Verhältnisse beschränkt, sondern seinen Blick kritisch auf die russische Realität richtet. Wie im Fall des Marineoffiziers Grigori Pasko, der offen die unhaltbaren Zustände in der Marine anprangerte und deshalb inhaftiert werden soll. Doch auch die Macht des Fernsehens muss vor der russischen Gerichtsbarkeit kapitulieren, denn Pasko wird später zu vier Jahren verschärfter Lagerhaft wegen Landesverrats verurteilt. 
Wer sich für das moderne Russland interessiert, wird dem "Russischen Tagebuch" eine Vielzahl von Fakten und Hintergrundinformationen über das wahre Gesicht dieses einst so mächtigen Landes entnehmen können. Und eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass dieser Staat noch nicht seinen offiziellen Bankrott erklärt hat. ©Torsten Seewitz, 27.08.2002

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