Maria Rybakova
"Die Reise der Anna Grom"
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg
Rowohlt 2001
256 Seiten, € 19,90

Um es vorweg zu nehmen, Maria Rybakova hat mit "Die Reise der Anna Grom" eine bewegende und interessante Geschichte geschrieben, die vor allem durch die ungewöhnliche Erzählperspektive besticht. 
Anna Grom, eine junge Russin,  hat sich das Leben genommen. Sie hatte sich ihr Leben anders vorgestellt als sie nach Berlin übersiedelte, um hier ihr Glück zu finden. Was sie im Leben nicht erzählen konnte, holt sie jetzt in Form von Briefen an den Geliebten nach. Dies sind keine gewöhnlichen Briefe, denn sie werden von Anna aus dem Jenseits geschrieben. Ihr bleiben vierzig Tage, bevor die Seele ihren Körper endgültig verlassen wird. Vierzig Tage, an denen sie ihrem Geliebten ihre unglückliche Lebensgeschichte erzählt, die vor allem von der Suche nach Liebe und Geborgenheit bestimmt wird. Sie  erzählt von ihrer Jugend in Moskau, ihren ersten Versuchen, in Berlin Fuß zu fassen, um letztendlich doch nur betrogen zu werden. Anna berichtet von ihren zahlreichen erotischen Abenteuern, die sie von einer Enttäuschung zur nächsten stürzen lassen. Und sie erzählt von ihrer unerwiderten Liebe zu Ulrich Wilamowitz, einem Kommilitonen. An ihn sind die Briefe gerichtet, ihm beichtet sie ihre große Zuneigung, die von ihm mehr aus der Sicht einer  platonischen Liebe betrachtet wurde. 
Annas Briefe offenbaren in schonungsloser Offenheit die Innenwelt einer unglücklichen Frau, die der Kälte der modernen Gesellschaft romantische Vorstellungen von Liebe und Glück entgegen zu setzten versucht. Erst durch den Tod erlöst, kann sie schwerelos zwischen den Zeit und Raum umher wandeln, ohne an Grenzen der Realität zu stoßen. Traumwelten werden im Zwischenreich von Leben und Tod zur Wirklichkeit, endlich kann sie ihrem Geliebten Wilamowitz nahe sein. 
Maria Rybakova, Enkelin von Anatoli Rybakow, hat ein Experiment gewagt und es ist ihr gelungen. Zwar merkt man einigen Passagen ihre Schwierigkeit an, die Erzählperspektive einzuhalten, doch wirkt sich diese kleine Schwäche nicht negativ auf das Gesamtbild des Romans aus. Im Gegenteil, fordern doch ihre teils tiefsinnigen Sentenzen über Leben und Sterben eines Menschen den Leser heraus, über das verdrängte Thema Tod nachzudenken. Allein die Vorstellung, jemand Verstorbenes könnte uns aus dem Jenseits Briefe schreiben, in denen er sich selbst erklärt, ließe manchen von uns sicherlich erschaudern. Doch liegt in dieser Illusion die Möglichkeit, den Tod als nicht Absolutes, Endgültiges  anzusehen, sondern immer auch als ein Stück Hoffnung auf Versöhnung. ©Torsten Seewitz, 28.12.2001

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