Anatoli
Rybakow
"Roman der Erinnerung"
Aus dem Russischen von Renate und Thomas Reschke
Aufbau Verlag Berlin 2001
442 Seiten, 22,50 €
"Erinnerungen sind nicht
an eine exakte Chronologie gebunden. Ich habe drei
Erzählungen über die Kindheit und drei Romane über die
Jugend geschrieben und darin Erlebtes und Erdachtes vermischt,
und nun kann ich beides nicht mehr so recht
auseinanderhalten."
Selten ist mit so ehrlichen Worten eine Autobiographie
eingeleitet worden, frei jeder Illusion und vermeintlichen
Besserwissern vorbeugend. Anatoli Rybakows Memoiren wurden
unter dem Titel "Roman der Erinnerung" 1997, ein Jahr
vor seinem Tod, veröffentlicht. Ein Vermächtnis sozusagen
und gleichzeitig Bilanz eines von politischer Unterdrückung
gekennzeichneten Lebens.
Rybakows erblickte 1911 in Tschernigow, einem jüdischen
Schtetl in der Nordukraine, das Licht der Welt. Einer Welt,
die 6 Jahre später zum ersten sozialistischen Staat werden
sollte und entgegen seiner Verheißungen, Millionen Menschen
Tod und Verderben bringen sollte.
Bis zum Jahr 1933 verlief Rybakows Leben wie das vieler seiner
Mitmenschen. Er studierte an der Fakultät für Autoverkehr am
Institut für Transportökonomie, und bereits in dieser Zeit
zeigte sich ihm die Verlogenheit des neuen Systems, dessen
Hautaugenmerk auf die ideologische Schulung einer Bürger lag.
Um die exponierte Stellung der Arbeiter und Bauern
hervorzuheben, wurden die Intellektuellen zu einer niederen
gesellschaftliche Schicht degradiert und zu Handlangern der
führenden Klasse erklärt.
Bereits kleinste Vergehen oder kritische Bemerkungen zur
Politik des ersten Arbeiter- und Bauern-Staates wurde mit
drakonischen Strafen geahndet. Die Härte des Systems bekam
Rybakow 1933 zu spüren, als er wegen einer Lappalie zu drei
Jahren Verbannung verurteilt wurde. Erst der Dienst in der
Roten Armee zur Zeit des Großen Vaterländischen Krieges
konnte ihn rehabilitieren.
Doch sollten die Schwierigkeiten nicht weniger werden, denn
noch immer war der Diktator Stalin an der Macht. Weiterhin
waren Verfolgungen politisch Andersdenkender an der
Tagesordnung und die berüchtigten Straflager in den Weiten
Sibiriens existierten ebenfalls.
Es ist wohl Rybakows Geschick im Umgang mit den Mächtigen zu
verdanken, dass von einer weiteren Verfolgung seiner Person
abgesehen wurde; wohl auch wegen guter Kontakte zu
einflussreichen Schriftstellern wie Fadejew oder Simonow. Mit
Veröffentlichung seines ersten Kinderbuches "Der
Marinedolch" begann Rybakows Erfolg als Schriftsteller,
jedoch nicht frei von weiteren Konflikten, die meist wegen
einer ideologischen Bereinigung seiner Bücher entstanden.
Rybakow erzählt nicht in erster Linie von seinem Aufstieg in
die erste Schriftstelleriege, vielmehr beleuchtet es das
politische Umfeld. Vor allem in der genauen Analyse der
politischen Verhältnisse liegt die Stärke seiner
Erinnerungen. Einst Mächtige verlieren ihren Schrecken und
werden von der menschlichen Seite her geschildert. Auffällig
ist, dass die meisten von ihnen dem Alkohol verfallen waren,
so zum Beispiel Fadejew, der mit seinem Roman "Die junge
Garde" äußerst erfolgreich war.
Nahezu der gesamte zweite Teil der Erinnerungen Rybakows nimmt
die Publikationsgeschichte seines mittlerweile weltbekannten
Roman "Die Kinder vom Arbat" ein. Wieder und wieder
wurde die Veröffentlichung aus meist fadenscheinigen Gründen
verschoben. Rybakow wurde vertröstet und zu weiteren
Streichungen angehalten, die dem Roman seine politische
Brisanz nehmen sollten.
Erst die Zeit der Perestroika ermöglichte eine
Veröffentlichung des Romans, doch unter weniger euphorischen
Vorzeichen, wie sie heute gern dargestellt werden. Denn auch
Gorbatschow hatte zuerst Bedenken.
Auch nach dem Lesen der Memoiren Rybakows grenzt es für mich
an ein Wunder, mit welcher Ausdauer der Autor sein Manuskript
der "Kinder vom Arbat" verteidigte, und vielleicht
kann man die Bedeutung dieses Buches erst nach der Lektüre
der Entstehungsgeschichte angemessen beurteilen. Die eingangs
erwähnte Befürchtung Rybakows, er könne Dichtung und
Wahrheit nicht mehr so recht unterscheiden, scheint er mit
seinen Memoiren selbst zu entkräften. Es ist erstaunlich, in
welcher Detailfülle sich der Autor an selbst belangsloseste
Begebenheiten erinnern kann. sein "Roman der
Erinnerung" ist neben der persönlichen Geschichte
Rybakows vor allem auch ein beeindruckendes Werk zum
Verständnis der russischen Seele, die immer wieder unter
diktatorischer Herrschaft litt und sich dennoch nicht
aufgegeben hat. ©Torsten Seewitz, 04.11.2001