Bernhard Schlink
"Liebesfluchten"
Diogenes Zürich 2000
307 S., 19,90 Euro (HC), 9,90 Euro (TB)

Nach dem großen Erfolg von "Der Vorleser" veröffentlichte Bernhard Schlink vor zwei Jahren einen Band mit Geschichten. Sein Titel "Liebesfluchten" steht hierbei exemplarisch für die verschiedenen Spielarten der Liebe, die Flucht vor oder Sehnsucht nach ihr, die verborgene oder die entdeckte Liebe. So variantenreich wie im wirklichen Alltag erleben die Helden seiner Geschichten, wie schicksalbestimmend oder glücksbringend die Segnungen der Liebe sein können.
Schlinks Gabe ist die Fähigkeit genau zu beobachten und einen Blick hinter die Fassade zu erhaschen.  Er beschreibt seine Figuren überaus nuanciert und sensibel. Wie mit einem Skalpell legt er ihre tiefsten Empfindungen bloß, ohne jedoch zu verletzen. 
Zu den eindrucksvollsten Geschichten gehört aus meiner Sicht "Der Andere", in der Schlink die Geschichte eines Witwers erzählt, der durch Zufall einen an seine verstorbene Frau adressierten Brief öffnet. Erst hielt er es für einen Irrtum, dass ein anderer, fremder Mann mit Namen Rolf seiner, wie er bislang meinte, treuen Frau einen sehnsuchtsvollen Liebesbrief schreiben konnte.  Nach langem Zögern entschließt er sich, dem Absender mitzuteilen, dass seine geliebte Lisa verstorben sei. Doch darauf hoffend, dass die Angelegenheit damit erledigt sei, erreichte ihn wenige Tage später ein Antwortschreiben, in welchem besagter Rolf, die Todesnachricht als Unwahrheit deutete. 
Durch diese erneute im leidenschaftlichen Ton verfasste Antwort aufmerksam geworden, begann der Witwer den Nachlass seiner Frau zu sortieren und stieß dabei auf weitere Briefe, die den Schluss zuließen, zwischen diesem Rolf und seiner Frau ist mehr gewesen als nur eine Bekanntschaft.  Er beschließt, dem fremden Mann einen weiteren Brief zu schreiben, doch unterzeichnete er ihn dieses Mal mit Lisa, dem Namen seiner Frau...
Den Ausgang der Geschichte erwartet man sicherlich als grandiosen ausgeklügelten Rachefeldzug des gekränkten Witwers. Doch Schlinks Geschichten funktionieren anders. 
Ob er von Andi erzählt, der sich aus Liebe zu seiner jüdischen Freundin Sarah beschneiden lässt und ihre Zuneigung trotz dieser Tat doch nur oberflächlich bleibt, oder vom Ehepaar, dessen Beziehung am Ende steht und das mit einer gemeinsamen Reise in die USA einen Neuanfang wagen will und letztendlich scheitert, in allem Geschichten spürt man das Zulaufen des Erzählstrangs auf einen finalen Punkt, der dem Erzählten eine unerwartet Wendung gibt. Dennoch berichtet Schlink nicht sensationslüstern aufgeheizt, sondern mit leisen, unspektakulären Tönen, und gerade dieses zurückhaltende Erzählen macht den Reiz der Geschichten aus.
Wie bereits mit "Der Vorleser" beweist Bernhard Schlink mit den "Liebesfluchten" seine Gabe, das scheinbar Komplizierten zwischenmenschlicher Beziehungen entlarvend und zugleich spannend in Worte zu hüllen. © Torsten Seewitz, 26.03.2002

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