Bernhard Schlink
"Der Vorleser"
Diogenes Zürich 1995
206 S., 17,90 Euro (HC), 7,90 Euro (TB)

Dass Bernhard Schlink als Jurist Romane schreibt, schien bis 1995 niemandem eine Besonderheit, waren doch die Fälle des Privatdetektivs Selb ein Garant für gute und unterhaltende Kriminalliteratur. Als Schlink jedoch mit "Der Vorleser" die Bühne der "ernsten" Literatur betrat, ging ein Aufschrei der Begeisterung durch das deutschsprachige Feuilleton. 
Was erzählt Schlink in seinem Roman so Außergewöhnliches, dass diese Aufregung gerechtfertigt wäre?
Zum einen ist da die Geschichte des 15jährigen, der sich in die 30jährige Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz verliebt. Eine stürmische und innige Liebe seitens des Jungen, der gebannt von der Weiblichkeit Hannas in einen Glücksrausch verfällt. Nun ist diese Konstellation in Romanen nicht neu, doch schildert Schlink die Zweisamkeit der beiden derart gefühlvoll, dass sich einem beim Lesen die Frage nach dem Unrecht dieser Beziehung erst gar nicht stellt. 
Als Hanna plötzlich aus der Stadt verschwindet, wird das junge Glück jäh zerstört. Kein Lebenszeichen, kein Abschiedsbrief, nichts verrät etwas über den neuen Aufenthaltsort und die Gründe für ihr Verschwinden. Jahre später, aus dem Pubertierenden ist ein junger Mann geworden, inzwischen Student der Rechtswissenschaft, trifft er Hanna wieder, als Angeklagte in einem Kriegsverbrecherprozess. Seine Hanna, diese wunderschöne, zärtliche Frau wird bewusst in Kauf genommene Tod von Häftlingen des KZ Auschwitz angelastet, die auf einem Todesmarsch qualvoll in einer brennenden Kirche umkamen. 
Obgleich dieses Zusammentreffen sehr konstruiert wirkt, entbehrt es nicht einer gewissen Dramatik. Schlink stellt die Frage nach der Schuld, der Schuldfähigkeit im konkreten Fall von Hanna, denn zu ihrem Unglück kann diese weder Schreiben noch Lesen. So erklärt es sich auch, weshalb der Junge ihr damals Romane vorlesen musste. 
Hanna lädt alle Schuld auf sich und ist bereit eine entsprechende Haftstrafe in Kauf zu nehmen. Zu verlieren hat sie nichts, niemand der sie vermisst oder auf sie wartet.
Einzig der junge Mann ist ihr noch immer zugetan, zu prägend waren die Erlebnisse seiner Jugendzeit, die gemeinsamen Erlebnisse mit Hanna, die nicht vergessen konnte und wollte. Schicksalhaft sollte er mit Hanna verbunden bleiben. 
Bernhard Schlink hat aus meiner Sicht eine glänzenden Roman geschrieben, der zum einen durch die Einzigartigkeit des Erzählten, zum anderen durch das Wie des Erzählens 
besticht. Immer bleibt seine Sprache feinfühlig, die Psyche seiner Protagonisten vorsichtig auslotend, niemals sensationslüstern, immer taktvoll.
Wenngleich der Roman mit der Fülle des Erzählten ein wenig überfrachtet wirkt, entwickelt er eine suggestive Kraft, die ihre Wirkung erst verliert, wenn das letzte Wort gelesen ist. © Torsten Seewitz, 25.03.2002

www.fragmentum.de