Mihail
Sebastian
"Der Unfall"
Aus dem Rumänischen von
Georg Aescht
Claassen Verlag München 2003
302 S.; 20,00 Euro
Manchmal
bedarf es Jahrzehnte, bis Bücher eines Autors, dem
Vergessen entrissen, wieder ihre Lesern finden. So im
Fall des rumänischen Schriftstellers Mihail Sebastian
geschehen, der, 1907 geboren, erst Jahre nach seinem Tod
1945 nicht in seiner Heimat, sondern in Frankreich
wiederentdeckt wurde. Zu Lebzeiten als erfolgreicher Bühnen-
und Romanautor gefeiert, wurde er in den vierziger
Jahren des 20. Jahrhunderts zunehmend wegen seiner jüdischen
Herkunft diskriminiert. „Der Unfall“ ist sein
letzter und zugleich erfolgreichster Roman, den er unter
seinem Namen 1939 veröffentlichen konnte.
Sebastian erzählt
die hierin die Geschichte von Paul und Nora, die sich im
Bukarest des Jahres 1935 durch einen Unfall kennen
lernen.
Um Nachhause zu gelangen, fährt Nora wie jeden Tag mit
der Straßenbahn. Da sich die Haltestelle weiter weg von
ihrer Wohnung befindet, springt sie stets risikofreudig
in einer Kurve aus der langsamer fahrenden Bahn. Noch
nie hat sie sich dabei verletzt, doch an diesem kaltem
Dezembertag passiert das Unglück, sie rutscht aus und
verletzt sich das Knie. Nur mühsam gelangt sie zu
Bewusstsein, kann sich ihr Liegen im kalten Schnee und
das schmerzende Bein nicht erklären. Und wieso stehen
so viele Menschen um sie herum?
Nach unendlicher langer Zeit, oder kam es ihr nur so
vor, fand sie die Kraft jemanden anzusprechen, um ihr
aufzuhelfen. Ein junger Mann fühlte sich angesprochen
und stützte sie. Gemeinsam gingen sie zu ihrer Wohnung,
sie humpelnd, um jeden Schmerz zu vermeiden und er
scheinbar missmutig, da sie vorgab in der Nähe zu
wohnen, der Weg sich jedoch in die Länge zog.
Auch in ihrer Wohnung wurde er nicht gesprächiger,
obgleich Nora sich redlich um ihn bemühte. Schließlich
hatte er ihr geholfen und sie wollte sich erkenntlich
zeigen.
Nora, die jungen Französischlehrerin, fühlt sich
ungemein angezogen von Paul, dem schweigsamen jungen
Mann mit dem ernsten Gesichtsausdruck. Doch Paul, der
die gerade erst vollzogene Trennung von der bekannten Künstlerin
Ann noch nicht verwunden hat, verschließt sich vor ihr.
Nur mühsam gelingt es Nora, etwas über ihn zu
erfahren, doch gerade diese Anstrengungen beflügeln sie
in ihrem Gefühl der Liebe für Paul.
Mihail Sebastian belässt es in seinem Roman nicht beim
Erzählen einer simplen Liebesgeschichte nach dem Schema
schöne Frau trifft rätselhaften Mann, sondern
entspinnt im Folgenden eine raffiniert konstruierte Erzählung
über die Wege und Umwege der Liebe zwischen zwei
Menschen. Unbeirrt verfolgt Nora ihr Ziel, Paul für
sich zu gewinnen und ihn seiner Isolation zu entreißen.
Ein gemeinsamer Skiurlaub, dem Paul voreilig zustimmt,
wird zu einer Reise in Tiefen seines Bewusstseins und
gebannt folgt man als Leser den Wandlungen diesen jungen
Mannes, der in den Weiten der verschneiten Landschaft über
sich hinauswächst und durch Nora lernt zu erkennen, was
wahrhaftige Liebe ausmacht.
Sebastian schreibt nie pathetisch von großen Gefühlen,
sondern wählt die leisen Töne. Mit psychologischem
Gespür begibt er sich in die feinen Verästelungen der
komplizierten Gefühlswelt seiner Protagonisten und
begleitet sie wohltuend zurückhaltend auf dem
schwierigen Weg ihrer Selbstfindung, die vor allem die
Pauls ist, der erstmals erkennt, was es heißt, frei von
Zwängen und alten Ängsten zu leben.
In Sebastians Roman „Der Unfall“ erfährt der Leser
nur partiell etwas vom realen Alltag Rumäniens und
Europas der 1930er und 40er Jahre, aber vielleicht ist
es genau dieses Aussparen von historischen Fakten,
welche dem Buch ein zeitloses Flair verleiht und es auch
für spätere Generationen interessant macht. ©
Torsten Seewitz, 08.04.2003