Dai
Sijie
"Balzac und die kleine chinesische Schneiderin"
Aus dem Französischen von Giò Waeckerlin Induni
Piper Verlag München 2001
200 Seiten, 17,90 €
Als durch Mao
Zedong 1966 die Große
Proletarische Kulturrevolution eingeleitet wurde, ahnte
niemand, welche unruhigen Zeiten dem Land bevorstanden. Neben
vielen Kulturschätzen, die im Rahmen der Revolution zerstört
wurden, waren es vor allem die Intellektuellen Chinas, die zu
Opfern zahlreicher Säuberungsaktionen im Namen des
Fortschritts wurden. Angriffsziele der Regierung waren die „Vier
Alten": alte Bräuche, alte Gewohnheiten, alte Kultur und
alte Denkmuster.
In den Jahren 1971 bis 1974 selbst zum Opfer dieser
Umerziehungsmaßnahmen geworden, erzählt Dai Sijie in seinem
ersten Roman die Geschichte von zwei Studenten, denen dieses
Schicksal ebenfalls zuteil wird. Untergebracht in einer
schäbigen Hütte, fernab in einem entlegenen Bergdorf, sollen
sie mittels schwerer körperlicher Arbeit in einem Bergwerk zu
parteitreuen Söhnen des chinesischen Volkes umerzogen werden.
Doch mündet diese fragwürdige Aktion nicht in Resignation
und Lebensunmut, sondern erschließt den beiden Studenten,
eher zufällig, unerwartete Welten, die der Liebe zu einer
Frau und die der Literatur.
So verliebt sich Luo in eine junge Schneiderin aus dem
Nachbardorf. Vollkommen gebannt lauscht sie seinen
Rezitationen und Nacherzählungen der Romane Balzacs, taucht
ein in eine bislang unbekannte Welt voller Leidenschaft.
Obgleich es verboten ist, schaffen es die beiden Studenten,
sich die Bücher von einem anderen jungen Mann, den sie den
Brillenchang nennen und der mit ihnen das gleiche Schicksal
teilt, auszuleihen. Dieser schmuggelte nämlich einen Koffer
voll mit westlicher Literatur in die Berge. Ein kostbarer
Schatz zudem, voll mit Meiserwerken westlicher Autoren wie
Balzac, Stendhal, Dostojewski und Dumas.
Die Frage, ob der Roman autobiographische Züge trägt, sei
dahin gestellt, doch verleihen die persönlichen Erlebnisse
des Autors diesem kurzweiligen Roman ein Stück an
Authentizität. Sijies Debüt ist ein wunderbar leicht
erzähltes Stück Prosa, voll der Liebe zur Literatur.
Vielleicht ein wenig zu idealisiert von der Kraft des
geschriebenen Wortes erzählend, doch niemals trivial. Luos
Liebe zu der kleinen Schneiderin ist zugleich eine große
Liebeserklärung an die Literatur. Zeigt sie doch
letztendlich, welche Illusionen und wunderbaren Gefühle sie
erwecken kann, sogar in Zeiten
größter Not. ©Torsten Seewitz, 12.09.2001