Maria
Elisabeth Straub
"Das Geschenk"
Diogenes Zürich 2006
333 S.; 19,90 Euro
Ein Tag im Leben der heiligen
Familie. Ja, so könnte man ganz allgemein die Rahmenbehandlung dieses ungewöhnlichen
Romans beschreiben. Wollte man präziser werden, so müsste erwähnt werden,
dass dies der Sterbetag Josephs ist und der Tag, an welchem Maria ihren
Erstgeborenen aus der Obhut der Familie
entlässt. Also ein für die Menschheitsgeschichte bedeutender Tag.
Ist darüber nicht bereits genug geschrieben worden? Warum also ist es Maria
Elisabeth Straub so wichtig, uns in ihrem Roman „Das Geschenk“ diese
Geschichte noch einmal zu erzählen?
Ganz einfach: weil sie in ihrer Betrachtung nicht im bereits Bekannten verharrt,
sondern eine gänzlich neue Sicht auf die Legende wagt. Eine Betrachtung, die
vor allem Maria als starke Frau in den Mittelpunkt des Erzählten stellt, ohne
diese jedoch zu glorifizieren. Sie begegnet
uns hier als Mensch und nicht als Heilige.
Am Sterbebett ihres Ehemanns sitzend, denkt Maria über ihr bisheriges Leben
nach. Über ihre Kindheit und Jugend, ihre Ehe mit Joseph und über ihre Kinder,
wovon der Erstgeborene, der Mamser, ihr am meisten ans Herz gewachsen ist. Es
ist gerade dieses Kind, welches ihr Leben schicksalhaft geprägt hat und dessen
Entstehen Erfahrungen zugrunde liegen, die beweisen, zu welch ungeheuerlichen
Taten Erwachsene in der Lage sind.
Sicherlich ist es dieser Bruch mit dem Tabu, dieser Versuch einer Erklärung,
wie Maria zu ihrem ersten Kind kam, der „Das Geschenk“ zu etwas
Einzigartigem macht. Doch es ist nicht nur dieser durchaus neue und für manchen
skandalöse Blick auf die Geschichte, sondern vor allem Maria Elisabeth Straubs
erzählerische Finesse. Sie versteht es meisterhaft, mit einer wundervoll
poetischen Sprache, die Zeit vor zweitausend Jahren zum Leben zu erwecken. Man
spürt förmlich, mit welcher Liebe zum Detail die Autorin ihren Roman
geschrieben hat, doch hat sie auch die Chance genutzt, Althergebrachtes wie das
Vaterunser aus dem Hebräischen neu zu übersetzen.
Daneben bereichern zahlreiche Wortneuschöpfungen wie „Brimborie“ oder „Blitschern“
und Anspielungen auf die Gegenwartung, zum Beispiel auf Werbetexte, die
Romanhandlung und lassen somit stets erkennen, dass es sich bei dem Erzählten
um eine Fiktion handelt.
„Das Geschenk“ bietet Lesegenuss in jeder Hinsicht und es sind dem Roman und
der Autorin weitaus mehr Beachtung zu wünschen, als ihnen momentan widerfährt.
Torsten Seewitz, 22.10.2006