Olga Tokarczuk
"Taghaus Nachthaus"
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
DVA Stuttgart 2001
318 S., 19,90 Euro
Als im Jahr 2000 Polen als Schwerpunktland der
Frankfurter Buchmesse auftrat, gehörte sie zu den Entdeckungen des
Bücherherbstes, Olga Tokarczuk, Jahrgang 1962. Es waren Bücher wie "Der
Schrank", eine Sammlung von Erzählungen, und ihr Roman "Ur und andere
Zeiten", mit denen sie eindrucksvoll ihr Talent unter Beweis stellte. Im
vorliegenden Roman "Taghaus Nachthaus" aus dem Jahre 1998 erzählt sie
nun wiederum eine Geschichte, die kunstfertig, und dies ist typisch für Olga
Tokarczuk, die Realität mit der phantasievollen Welt der Träume und Märchen
verbindet.
Tokarczuks Buch ist kein Roman im herkömmlichen Sinn, denn er besitzt keine
fortlaufenden Handlungsstrang. Vielmehr reihen sich einzelne Geschichten, Bilder
und Gedanken zu einem Gesamtbild der niederschlesischen Historie. In langen
Gesprächen bewegen sich die Ich - Erzählerin und ihre alte Nachbarin Marta
tief hinein in eine Welt voll unglaublicher Begebenheiten. Immer sind die
Ausgangspunkte ihrer Erinnerungen das kleine Dorf, in dem sie leben und die
Stadt Nowa Ruda.
Und die alte Marta hat viel erlebt während ihres langen Lebens, obgleich sie
ihr kleines Dorf nur selten verlassen hat, denn sie hält Reisen für
sinnlos.
Und dennoch hat sie viel zu erzählen, obgleich nicht immer zu unterscheiden
ist, inwieweit sie Dichtung und Wahrheit auseinander hält. Gespannt hört ihre
junge Nachbarin, die Hinzugezogene, ihren Geschichten um den ehemaligen Adligen
und Mystikforscher von Goetzen zu, der vor der russischen Armee flüchtend,
sein Anwesen verlassen musste oder von dem alternden Deutschen, der zum Sterben
in seine alte Heimat zurückgekehrt war und auf der grünen Grenze zwischen
Polen und Tschechien starb. Besonders makaber erscheint gerade diese Erzählung,
denn die überforderten Grenzwächter schoben seinen Leichnam abwechselnd von
der einen Landeseite auf die andere, nur damit sie nicht mit den Formalitäten,
die ein Toter mit sich bringt, konfrontiert werden.
Lebendig erscheinen die Episoden von den deutschen "Touristen", die
Vertriebenen, die ihre alte Anwesen für ihre Enkel fotografieren. Aus
reiner Großherzigkeit "füttern" sie dann die einheimischen Kinder
mit Bonbons, eine Beleidigung für die Einheimischen.
Besonders hervor sticht die zentrale Erzählung über die Volksheilige
Kümmernis (Wilgefortis) und die des jungen Novizen Paschalis, der ihre Vita zu
Papier bringen möchte. Eindrucksvoll dargestellt, bekommt der Leser hier einen
Einblick in die an Mythen reiche Welt Schlesiens. Einer Welt, die Olga Tokarczuk
ausreichend Stoff für ihr phantasievollen und brillant erzählten Geschichten
gibt. ©Torsten Seewitz, 1.10.2002
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