Ljudmila Ulitzkaja
"Reise in den siebenten Himmel"
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Verlag Volk und Welt München 2001
512 Seiten, 24,50 €

Unbestritten gehört Ljudmila Ulitzkaja zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen des modernen Russlands. Entgegen der Experimentierlust ihrer jüngeren Kollegen setzt Ulitzkaja die Tradition großer russischer Erzählkunst fort, indem sie in episch breit angelegten Form von menschlichen Schicksalen schreibt. Wie bereits in ihrem 1997 auf Deutsch erschienenen Roman "Medea und ihre Kinder" erzählt sie in ihrem aktuellen Roman "Reise in den siebenten Himmel" wieder die Geschichte einer Familie.
Pawel Kukotzki, Spross einer traditionsreichen Medizinerfamilie, beschließt in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und ebenfalls Arzt zu werden. Nach erfolgreichem Studium, noch in den Wirren der Oktoberrevolution von 1917, lässt er sich als Frauenarzt nieder und erlebt seit dieser Zeit den Niedergang menschlicher Werte unter dem bolschewistischem System. Ihn als Arzt beschäftigt vor allem der Tod vieler Frauen, die ungewollte Schwangerschaften von sogenannten Engelmacherinnen abtreiben lassen. Doch sein Handlungsspielraum ist gering, da Abtreibungen jeder Art mit rigoros bestraft werden.
Als Kukotzki sich in seine spätere Frau Jelena verliebt, der er vor dem Krieg mit einer aussichtslos geglaubten Operation das Leben rettete, ahnt er noch nicht, welch schicksalhafte Pfade sein Leben nehmen wird. Als er Jelena heiratet, nimmt er auch deren kleine Tochter Tanja zu sich, die er fortan vergöttert. Doch entzweit sich das gemeinsame Leben der Eheleute nach Jahren der Harmonie, als sich Pawel vehement für die Aufhebung des Abtreibungsverbotes einsetzt. Jelena erträgt den Zwist nicht und flieht in eine traumhafte Wahnwelt, die sie die Wirklichkeit immer verzerrter wahrnehmen lässt. Pawel hingegen ertrinkt seinen Kummer in Alkohol, eine wohl als typisch russisch zu bezeichnende Form der Konfliktbewältigung.
Einzig Tanja, zwischen den Konflikt ihrer Eltern gedrängt, beschließt nach einem Versuch, Genetik zu studieren, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Von der Unbefangenheit der Hippie-Generation inspiriert, die es auch in der Sowjetunion gab, führt sie ein unabhängiges Leben frei von gesellschaftlichen Zwängen. Vor allem in der konventionslosen Liebe zu den Zwillingssöhnen eines mit der Familie Kukotzki befreundeten Genetikers zeigt sich ihr Drang wider die Spießigkeit der späten Sowjetära zu leben. Sehr zur Sorge ihres Vaters, der gehofft hatte, aus seiner Tochter möge eine strebsame Wissenschaftlerin werden, doch toleriert er ihren Lebenswandel, versucht sie jedoch nach der Geburt ihres Kindes wieder nach Hause zu holen.
Ulitzkaja erzählt in die Geschichte der Kukotzkis im vertrauten Stil ihrer früheren Werke und vielleicht werden aus diesem Grund die Protagonisten ihres Romans "Reise in den siebenten Himmel" sehr schnell zu Vertrauten. Einzig der experimentelle Versuch der Autorin, Jelena in einer Traumreise Vergangenes und Prophetisches erleben zu lassen, scheint etwas deplaziert. Nach der wundervoll leicht erzählten Geschichte, nimmt sich diese Traumsequenz wie ein Fremdkörper aus und strapaziert so die Geduld des Lesers. Zu verschlüsselt kommen die vermeintlichen Botschaften daher, zu schwer fällt es, den wirren und phantasierenden Gedanken Jelenas zu folgen.
Doch trotz dieser kompositorischen Schwäche des Romans, bleibt dieser ein beeindruckendes Zeitbild der sozialistischen Ära Russlands. Fast erscheint es, als habe in der Gegenwart nur die Autorin Ljudmila Ulitzkaja die epische Kraft, die an Widersprüchen reiche Geschichte ihres Landes literarisch adäquat aufzuarbeiten.
Unter diesem Aspekt betrachtet, zählt diese Autorin zu den bedeutendsten Stimmen der modernen russischen Literatur mit einer erzählerischen Kraft, die ihresgleichen sucht. ©Torsten Seewitz, 04.11.2001

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