Manuel Vicent
"Der Gesang der Wellen"
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen
C. Bertelsmann München 2000
256 Seiten, 19,00 € (HC), 8,00 € (TB)
Die Sage des Odysseus, der nach zehnjähriger Irrfahrt zu seiner Geliebten
Penelope zurückkehrte, zieht seit Jahrtausenden die Menschheit in ihren Bann.
Unzählige Male wurde dieser Mythos neu erzählt und variiert, wobei die
Versdichtung Homers die bekannteste sein dürfte.
Dass die Geschichte der Odyssee auch heute noch fasziniert, stellt der spanische
Schriftsteller Manuel Vicent mit seinem Roman "Der Gesang der Wellen"
eindrucksvoll unter Beweis.
An einem heißen Sommertag werden zwei Leichen an den Strand des spanischen
Küstenortes Circea gespült werden. Zweifelsfrei konnte die tote Frau, die in
ein wunderschönes Seidenkleid gehüllt war, als Martina, die Frau des reichsten
Mannes im Ort, identifiziert werden. Der männliche Tote trug einen eleganten
schwarzen Anzug und sah dem zehn Jahre zuvor auf rätselhafte Weise
verschwundenen Odysseus Adsuara, Lehrer am örtlichen Gymnasium verblüffend
ähnlich.
Während der Gerichtsmediziner die genaue Identität des Toten festzustellen
versucht, blickt die Handlung zurück und erzählt die Geschichte einer
leidenschaftlichen Liebe, die zehn Jahre zuvor ihren Anfang nahm. Als der junge
Lehrer Odysseus Adsuara in dem kleinen Küstenort Circea seine Anstellung als
Lehrer begann, war sein Kopf voller Träume und Schwärmerei für die
griechische Mythologie. Mit diesen Geschichten gelang es ihm, die junge,
verträumte Martina für sich zu gewinnen. Mit der Hitze des Frühlings begann
die Liebe zwischen beiden zu entflammen. Erst zart, dann mit Fortschreiten der
Jahreszeit immer stürmischer werdend.
Bis hierher klingt alles wie in einem durchschnittlichen Liebesroman, doch
besteht das Faszinierende an Vicents Roman in der Art seines Erzählens.
Durchzogen von zahlreichen Andeutungen auf die griechische Mythologie, vor allem
auf die "Odyssee" von Homer, gewinnt die Geschichte von Odysseus und
Martina an Interesse. Der Leser glaubt den Fortlauf der Handlung zu kennen.
Vicent schafft es aber, mit einer zärtlichen, federleichten Sprache die
Geschichte in der Schwebe zu halten.
Als Odysseus eines Tages vom Fischen nicht zurückkehrt und sein Boot einsam auf
dem Meer treibend aufgefunden wird, bricht für Martina eine Welt zusammen. Sie
flüchtet in die Heirat des reichen Bauunternehmers Alberto Sierra, der sie
bereits lange umworben hatte. Alle Trauer um den verschollenen Odysseus schien
überwunden, das Leben für Martina neu zu beginnen. Bis an einem Abend, zehn
Jahre nach seinem spurlosen Verschwinden, Odysseus wieder vor ihr steht. Oder
war es nur jemand, der dem ehemals Geliebten sehr ähnlich sah?
"Der Gesang der Wellen" ist die wunderbar erzählte Geschichte zweier
Menschen, die nach langer Trennung ihre Liebe neu entdecken und die erst der Tod
wieder vereint. So gesehen hat Manuel Vicent ein modernes Märchen geschrieben,
welches die spanischen Leser so begeisterte, dass "Der Gesang der
Wellen" über Monate auf den Bestsellerlisten stand und mit dem wichtigsten
Literaturpreis Spaniens, dem Premio Alfaguara, ausgezeichnet wurde. ©Torsten
Seewitz, 30.01.2001