Urs Widmer
"Der Geliebte der Mutter"
Diogenes Verlag Zürich 2000
130 Seiten, 16,90 (HC), 10,00 (SoA)


Alles begann mit einer Schwärmerei für einen jungen, mittellosen und musikbesessenen Mann namens Edwin. Die Mutter, Tochter eines reichen Unternehmers, ist ihm hoffnungslos verfallen. Ein Leben lang sucht sie seine Nähe, erst körperlich, später dann, als ihr Liebe unerwidert blieb, auf geistiger Ebene.
Und Edwin lässt sich diese Schwärmerei gefallen, spielt mit der ihn Anbetenden, ohne dass sie sich dessen anfangs gewahr wird. Im Gegenteil, sie übernimmt die Rolle des "Mädchens für alles" im von Edwin neu gegründeten Jungen Orchester, reist mit ihnen durch das Land, durchlebt die Höhen und Tiefen des Ensembles, opfert sich auf, ohne Dank. Sie war ihrem Edwin nah, nur dies zählte.
Noch ein Roman über eine unglückliche Liebe, könnte man meinen, doch beschränkt sich Urs Widmer nicht auf die epische Ausbreitung dieses bekanntes literarischen Motivs. Obgleich im lakonischen Stil geschrieben, dringt Widmer tief in die Psyche seiner Figuren ein, macht sie für den Leser begreifbar. Besonders auffällig wird in dies in der Figur der Mutter, die zwar immer distanziert als "die Mutter" bezeichnet wird, doch schafft gerade diese Distanziertheit, die mal ungläubiges Kopfschütteln, mal Verständnis und Mitleid beim Leser erregt, die notwendige Nähe und Sympathie für die Protagonistin.
Widmer gelingt es äußerst brillant, die Geschichte einer "sturen Leidenschaft" zu erzählen und dringt somit zum Kern des Begriffes vor. Leiden an der Liebe. Vielleicht ist wahre Liebe nur in der Distanz spürbar, auch wenn der Gram die Seele zerfrisst?
Nachdem ihre Liebe unerwidert blieb, bemühte sich die Mutter diese gegenüber zu verbergen, auch dann, wenn sie sich körperlich sehr Nahe waren. Fast scheint es unglaublich, dass Edwin von dieser intensiven Zuneigung nichts gespürt haben mag, doch in der Erinnerung des Sohnes, wird ihm die Rolle des Frauenhelden zugeschrieben, den noch nicht einmal die bürgerliche Ehe von Seitensprüngen mit anderen Frauen abhalten konnte.
Es liegt nahe, den Roman als biographische Prosa, vielleicht als den Versuch einer Bewältigung zu lesen, doch vermischt Widmer die Ebenen der Realität und Fiktion so gekonnt, dass die Illusion der Erfindung überwiegt.
Widmers "Verneigung vor einem schwer zu lebenden Leben" endet dramatisch. Die Mutter stürzt sich, des Leidens überdrüssig, aus dem Fenster. Zurück bleiben ihre letzten Worte, mit zittriger Hand als Abschiedsbrief notiert: "Ich kann nicht mehr. Lebt weiter und lacht. Clara" und die Erinnerung. ©Torsten Seewitz, 06.12.2000

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