Urs Widmer
„Das Buch des Vaters“
Diogenes Verlag Zürich 2004
209 S.; 19,90 Euro
Nach seinem großartigen epischen
Portrait der Mutter in „Der Geliebte der Mutter“ legt der schweizerische
Schriftsteller Urs Widmer nunmehr ein Buch über seinen Vater vor. Vielmehr legt
dies der Titel „Das Buch des Vaters“ nahe, obgleich Widmer nur eine
Ähnlichkeit mit der Vaterfigur sehen will.
In gewohnt kurzen, präzisen Sätzen läßt der Autor seinen Ich-Erzähler über
das Leben des verstorbenen Vaters sinnieren. Er entwirft ihm eine Biographie,
die der wahren Lebensgeschichte nahe kommt, doch ebenso gut erfunden sein kann.
Denn an detaillierte Ereignisse oder Gespräche, zum Beispiel aus der
Kinderzeit, kann sich Urs Widmer nicht erinnern. So folgt der Leser einem Leben,
welches vor allem von einer großen Liebe zur Literatur geprägt war.
Für Karl, so heißt die Vaterfigur, ist die Welt der Bücher existentiell.
Bereits als Zwölfjähriger bekommt er im Rahmen eines archaisch wirkenden
Initiationsritus von der Gemeinschaft des Heimatdorfes seiner Eltern ein großes
Buch geschenkt, dessen leere Seiten er selbst, einem Tagebuch gleich, mit Inhalt
füllen soll. Dieses Buch existierte übrigens bis zum Tod des Vaters, doch
verschwand es daraufhin, ohne dass der Sohn es lesen konnte.
Später, als Erwachsener, arbeitet Karl als Lehrer und übersetzt in seiner
Freizeit die Romane französischer Klassiker wie Diderot, Stendhal oder Villon.
Doch nicht nur die schöngeistige Welt ließ ihn in Begeisterungsstürme
ausbrechen, sondern auch die Welt der Politik. Denn mit gleichem Enthusiasmus
wie er den schönen Künsten anheim fiel, ließ er sich 1936 für die Ziele der
Kommunistischen Partei begeistern.
So reich das Leben des Vaters an Gegensätzen war, so stetig war er doch in der
Liebe zu seiner Frau Clara. Interessant für den Leser, der bereits den Roman
„Der Geliebte der Mutter“ kennt, ist der vorgenommene Perspektivwechsel,
denn Urs Widmer erzählt die gleiche Geschichte nunmehr aus der Sicht des
Vaters.
Es braucht eigentlich nicht erwähnt zu werden, doch Widmer beweist auch mit
seinem neuen Buch, dass er ein glänzender Erzähler und Stilist ist, sowie zu
Recht zu den bedeutendsten Autoren des deutschsprachigen Raumes zählt. ©Torsten
Seewitz, 10.03.2004