Lenka Reinerova
"Alle Farben der Sonne und der Nacht"

Aufbau-Verlag Berlin 2003
190 S.; 15,00 Euro


Es hat über drei Jahrzehnte gedauert, bis die 1916 geborene Lenka Reinerová nochmals die Kraft aufbrachte, um ihre Erinnerungen an die verhängnisvollen Jahre ihrer Inhaftierung in den 1950er Jahren schreibend aufzuarbeiten. Bereits 1969 erschien der Vorläufer des nun vorliegenden Buches mit dem poetischem Titel "Alle Farben der Sonne und der Nacht" auf Tschechisch. Jedoch verschwand dieses Werk wenige Wochen nach Veröffentlichung wieder aus den Regalen der Buchhandlungen. Es verschwand wie die Hoffnungen auf einen reformbereiten  Sozialismus nach der Zerschlagung des "Prager Frühlings".
Reinerová, die als überzeugte Sozialistin 1935 bei der "Arbeiter-Illustrierten-Zeitung"als Redakteurin und Übersetzerin arbeitete und dort mit so namhaften Autoren wie Egon Erwin Kisch, Anna Seghers,  und Stefan Heym zusammentraf, floh 1939 über Bukarest ins Exil nach Paris. Die erhoffte Sicherheit war trügerisch, denn sie wurde verhaftet und zu sechs Monaten Einzelhaft im Pariser Frauengefängnis La Petite Roquette verurteilt. Die anschließende Internierung im Frauenlager Rieucros und später in Südfrankreich 1941 nutzte sie letztendlich zur Flucht nach Casablanca. Von dort brachte sie ein Schiff nach Mexiko, eines der wenigen Länder, die großzügig Emigranten Schutz gewährten. Hier machte sie Bekanntschaft mit deutschen Intellektuellen wie Bodo Uhse, Walter Janka und wiederum Anna Seghers.
Mit ihrer Rückkehr nach Prag im Jahre 1948 verknüpften sich viele Hoffnungen auf einen sozial gerechten Sozialismus, die jedoch mit den stalinistischen Säuberungsaktionen zu Beginn der 1950er Jahre bitter enttäuscht wurden. Auch Lenka Reinerová gerät als Jüdin und Emigrantin aus dem Westen in die Fänge der Justiz und wird 1952 verhaftet.
An dieser Stelle setzten ihre Erinnerungen "Alle Farben der Sonne und der Nacht" ein, in denen sie von der Zeit ihrer Haft erzählt. Es waren Monate, denen sie entwürdigenden Verhören ausgesetzt war in denen sie vehement des Verrats an der Sache des Sozialismus beschuldigt wurde. Sie, die glühende Sozialistin, sollte gegen die neue Gesellschaftsform gearbeitet haben - einfach paradox. Doch dies sahen die selbstgerechten Ermittler nicht so und versuchten ihr Opfer mit Dauerverhören und weiteren inhumanen Methoden zu einem Geständnis zu zwingen. Einzig die Erinnerungen an ihre Vergangenheit, an ihren Mann und ihre Tochter bewahren Lenka Reinerová davor, den Verstand zu verlieren. Anfänglich in Einzelhaft, später dann zusammen mit einer anderen Inhaftierten boten die quälend langen Stunden des Tages genug Raum, den eigenen Mikrokosmos gelebten Lebens aufzufächern, um ihn vor dem inneren Auge zu betrachten. In der Erinnerung erscheint dann vieles hell wie vom gleißenden Licht der Sonne angestrahlt, die dunklen Kapitel der eigenen Biographie  hingegen versinken im Dunkel der Nacht.
Immer wieder stellt sich Lenka Reinerová die Frage, worin ihre Schuld bestand. War es, weil sie Jüdin war? Hatte sie an irgendeiner Stelle etwas Falsches gesagt? Die Ermittler warfen ihr jedenfalls vor, an antikommunistischen Umtrieben beteiligt gewesen zu sein. Nichts von deren Vorwürfen entsprach der Wahrheit, doch wie sollte sie sich gegen eine Übermacht aus politischen Phrasen und falschen Anschuldigungen wehren?
Einzig wohl, in dem sie die Wahrheit erzählte, die Geschichte ihres bis dahin gelebten Lebens, das einer standhaften Sozialistin. Doch dergleichen wollten die sogenannten Ermittler nicht hören.
"Von einem Feind erwartet man nichts anderes, und es ist irgendwie in Ordnung, wenn er gegen einen ist. Wenn dass aber die sogenannten eigenen Leute sind, dann ist man fassungslos." bemerkt Lenka Reinerová in einem Interview mit dem "mdr" im Mai diesen Jahres.
In ihrem Buch versteht es die Autorin meisterhaft genau dieses ambivalente Gefühl ohne falsches Pathos wiederzugeben. Sie erzählt mir klaren Worten, die jedoch eine ungemein poetische Anziehungskraft besitzen. Die Wahrhaftigkeit des Erinnerten verschafft dem Text eine Nähe, die einem beim Lesen die Beengtheit und Qualen der Haft förmlich spüren lässt.
In Zeiten, in denen eine unkritische Betrachtung der sozialistischen Gesellschaftsordnung wieder Einzug hält, setzt Lenka Reinerovás Buch genau jenen Akzent, der zur Relativierung notwendig ist. Nämlich nicht zu vergessen, wie viele Opfern jener falsch verstandene Staatssozialismus auf dem Gewissen hat. Torsten Seewitz, 02.07.2003

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