Amélie Nothomb
„Reality-Show“
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Diogenes Verlag Zürich 2007
170 S.; 18,90 Euro

Es passiert an einem beliebigen Tag, als unschuldige Menschen auf der Straße abgeführt werden und sich in Viehwaggons, eng zusammengedrängt, wieder finden. Keines der Opfer ahnt nur im Entferntesten, wohin die Reise geht. 
Nein, dies ist kein Roman über die Deportationen Millionen Unschuldiger während der Zeit des faschistisch besetzten Europas, sondern der Auftakt zu einer schockierenden Satire der französisch-belgischen Autorin Amélie Nothomb über die Folgen medialer Verrohung.
Die Verhafteten werden in ein Lager gebracht, „ dass denen der Nazis vor nicht allzu langer Zeit relativ ähnlich war“, mit einem Unterschied – überall sind Überwachungskameras installiert. Ungewollt werden sie zu Akteuren einer TV-Show mit dem Namen „Konzentration“, denn „öde Containergeschichten sind out“, wie ein Mitarbeiter des produzierenden Fernsehsenders lakonisch bemerkt.
Die unschuldig Inhaftierten müssen in Baracken unter unmenschlichen Bedingungen leben, verlieren ihren Namen, müssen körperlich schwer arbeiten und sich von Aufsehern erniedrigen und misshandeln lassen.
Überall sind die Fernsehkameras dabei, um das Grauen in die Wohnzimmer einer nicht näher benannten Nation zu übertragen. Und als wäre dies nicht bereits makaber genug, dürfen die Zuschauer per Telefon oder Videotext täglich über den Tod von zwei Gefangenen abstimmen.
Die Einschaltquoten betragen über 90 %, die Intellektuellen empören sich und die Boulevardblätter heizen die Stimmung mit provozierenden Schlagzeilen an.
In dieses albtraumhafte Szenarium hat Amélie Nothomb die Geschichte der beiden Frauen Pannonica und Zdena eingebettet. Die eine Gefangene, die andere Aufseherin und magisch angezogen von der Schönheit und Aura Pannonicas, die trotz der widrigen Umstände um ihre Würde und die der anderen Lagerinsassen kämpft.
Nothomb zählt zu den erfolgreichsten Schriftstellerinnen Frankreichs und jeder ihrer Romane polarisiert bei seinem Erscheinen das Publikum. So wundert es nicht, dass auch „Reality-Show“ bei seinen Lesern für Furore sorgte und die Kritikerzunft spaltete. Doch dieses Mal fällten die Rezensenten nahezu durchgängig ein vernichtendes Urteil. Zum Beispiel  warf ein Literaturkritiker des „Le Parisien“ ihr vor, mit „Relality-Show“ den Holocaust zu banalisieren und nannte das Buch einen „ekelerregenden Marketing-Gag“.
Zugegeben, Nothombs Stil ist Geschmackssache und ihre hölzerne Figurenzeichnung und Dramaturgie schmälern das Leseerlebnis, doch trifft sie mit ihrer Satire in das Herz einer zunehmend degenerierten TV-Nation.
In Zeiten, in denen Fernsehsender nicht müde werden, überholte Formate wie „Big brother“ in zahlreichen Auflagen wiederzubeleben, die Zuschauer jedoch nicht wie erwartet zuhauf vor den Bildschirmen sitzen, muss man sich berechtigt fragen, was Produzenten demnächst einfällt, um verlorenes Terrain wiederzugewinnen.
„Reality-Show“ ist eine Provokation, eine längst überfällige. Doch leider wird sie nicht diejenigen erreichen, die provoziert und wachgerüttelt werden müssten. Torsten Seewitz, 26.02.2007 

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