Als Veza Canetti, die Frau des berühmten Schriftstellers
Elias Canetti, ihren Roman „Die Schildkröten“ 1939
im Londoner Exil fertig stellte, fand sich umgehend ein
Verlag der das
Manuskript als Buch herausgeben wollte. Doch der
Kriegsausbruch verhinderte dessen Veröffentlichung.
Man könnte sich ausmalen, was geschehen wäre, hätte
der Roman bereits damals seine Leser gefunden. Denn die
Geschichte, die Veza Canetti auf so nachhaltig
beeindruckende Weise erzählt, ist die des Schicksals
Wiener Juden nach dem „Anschluß“ an das deutsche
Reich. Stellvertretend für die unzähligen Deportierten
lässt die Autorin ihre Protagonisten Eva und Andreas
Kain zu Wort kommen. Sie wohnen in einem Wiener
Nebenbezirk, ungestört und von allen geachtet. Bis 1938
die ersten Hakenkreuzfahnen auf den Balkonen des
Wohnhauses gehisst werden und Uniformierte die Wohnungen
nach Juden durchsuchen. Nahezu arglos verfolgt die
Familie Kain die Geschehnisse; vor allem Andreas, der
sich in seine Bücherwelt zurückzieht und der Realität
nur ungern ins Gesicht schaut. Erst als sein Bruder
Werner, der als Geologe in einem wissenschaftlichen
Institut arbeitet, auf Grund seiner Religionszugehörigkeit
entlassen wird, bröckelt das Bild von der heilen Welt.
Schleichend nimmt das Grauen in Form braun Uniformierter
Besitz von der vertrauten Lebenswelt. Nicht genug, dass
die rot-weißen Fahnen die Gegend verunzieren, nein,
auch der Aufenthalt unten in der Stadt wird zur
Lebensgefahr, wenn Angehörige der SA Lokale und Geschäfte
nach Juden durchsuchen. Schildkröten gleich verkriecht
sich die Familie Kain unter ihrem Panzer, erträgt
geduldvoll die Inbesitznahme ihres Eigentums und hofft
inständig auf ein baldiges Ausreisevisum, welches ihnen
die Flucht in das sichere englische Exil ermöglicht.
In seinem kenntnisreichen Nachwort, verweist Fritz
Arnold auf den Zusammenhang der Biographie Veza und
Elias Canettis mit dem im Roman beschriebenen
Ereignissen, die unmittelbar nach der
„Kristallnacht“ 1938 aus Wien über Paris nach
London fliehen konnten. Dass die Vermutung naheliegend
ist, Veza Canetti erzähle mit diesem Roman ihr eigenes
Schicksal, bestätigt die spätere getroffene Aussage
ihres Ehemannes zu ihrem Werk, dass es nie ihre Sache
gewesen sei, zu erfinden.
Diese Erkenntnis mag zum einen aus
literaturwissenschaftlicher Sicht interessant sein, zum
anderen wäre sie 1939 als Beweis für die Authenzität
des Erzählten wichtig gewesen. Zwar ist diese Annahme
spekulativ, doch wären mit diesem Roman die englischen
Leser auf die ungeheuerlichen Vorgänge in Deutschland
und Österreich aufmerksam gemacht worden. So müssen
wir uns damit begnügen, diesen ungemein dicht erzählten
Roman sechzig Jahre später, mit dem Wissen um den verhängnisvollen
Fortgang der Geschichte, lesen zu dürfen.
Dennoch mit Gewinn, wie man nach der Lektüre
uneingeschränkt feststellen muß, denn Veza Canettis
Sprache trifft den richtigen Ton, der die Schrecken der
damaligen Zeit lebendig werden lässt.
Nicht nur die beschriebenen Ereignissen der öffentlichen
Demütigung jüdischer Menschen, sondern die Einblicke
in die Gedankenwelt ihrer Protagonisten, die von Angst
und Schrecken geprägt ist, lassen „Die Schildkröten“
zu einer nachhaltigen und eindrucksvollen Leseerfahrung
werden. Torsten Seewitz, 11.12.2003
|