Wer
– im Gegensatz zu mir – etwas von moderner Lyrik
versteht, dürfte Ulla Hahn kennen, deren lyrische Werke
seit 1987 vielfach gelobt und preisgekrönt wurden. Nach
ihrem umstrittenen autobiographischen Roman („Das
verborgene Wort“, 2001) sah sie eine Herausforderung
darin, in ihren künftigen Romanen und Erzählungen
zwischen den Genres „Lyrik“ und „Prosa“ hin- und
herzuwechseln und dabei jeweils „in ganz andere
Personen zu schlüpfen“. In den 13 Erzählungen ihres
neusten Buches „Liebesarten“ versucht die
promovierte Germanistin und Universitäts-Dozentin,
poetische Natur- und Landschafts-Beschreibungen mit
schicksalhaften Erlebnissen von Menschen zu verbinden.
Vor dem Hintergrund der in anspruchsvoller Sprache
entfalteten Naturromantik wirken die handelnden Figuren
jedoch hin und wieder seltsam deplaziert und verstörend.
Die „Botschaft“ zwischen den Zeilen lautet:
die Welt könnte so schön sein, wenn da nicht Menschen
wären, die sich und einander mit „Liebes-Unarten“
quälten - mit fehlgeleiteter oder betrogener Liebe, mit
Liebesschmerz und Eifersucht, Reue, Bitterkeit und Hass.
Wie ein roter Faden zieht sich durch viele der Erzählungen
die Figur einer 40-50jährigen (geschiedenen)
Akademikerin, die - bei ihrer vergeblichen
Sehnsucht nach einem (neuen) verlässlichen Partner –
sich selbst und andere in ironisch-sarkastischer Art und
Weise betrachtet.
Ulla Hahn, die mit der Beschreibung von Gefühlen
bewusst zurückhaltend umzugehen beabsichtigt („weil
die im Leser selbst erzeugt werden sollen“), übersieht
leider gelegentlich, dass Ironie, Überheblichkeit und
Verachtung verhindern, dass der Leser sich ernsthaft auf
die Probleme der dargestellten Figuren einlassen kann.
Doch es gibt bemerkenswerte Ausnahmen unter den Erzählungen,
und um deretwillen lohnt es sich, das Buch zu
lesen und anderen zu schenken. Zwei von ihnen möchte
ich kurz vorstellen. Die schönste beginnt so: „Wer
aber an gebrochenem Herzen stirbt, der muss einmal im
Jahr zurück auf die Erde und seinem Tod auf den Grund
gehen. Einen Tag und eine Nacht dürfen wir in
Tiergestalt nahe dem geliebten Menschen verweilen… Ich
flog als Motte zu ihm.“ Welch ein phantastisch märchenhafter
Einfall! Der Leser fühlt sich verzaubert und zu
einem Perspektivwechsel gezwungen: Vom Jäger dieses lästigen
Ungeziefers wird er selbst zur ausgelieferten Motte, die
sich als stumme Beobachterin ihrem „Herzensbrecher“
von einst immer wieder stellen muss. „Denn wir sind
erst erlöst, wenn wir aufhören, unser Unglück zu
lieben“.
Die Erzählung „Eine einfache Geschichte“ fällt
stilistisch und aufgrund ihrer aktuellen politischen
Thematik aus dem Rahmen des Buches. Es geht um den
„Spuk in Springerstiefeln“ und die (un-)
mögliche Realisierung der Forderung „Reden statt
Ausgrenzen“. An die Stelle romantischer
Naturerlebnisse tritt hier die anschauliche Beschreibung
eines verwahrlosten Stadtteils, dessen Bewohner sich ängstlich
und hilflos gegen die eskalierende Gewalt auf der Straße
abschotten. Nur die Protagonistin Lisa stellt sich den Tätern
entgegen und wird selbst zum Opfer. Ulla Hahn
unterbricht die Handlung von Zeit zu Zeit und wendet
sich direkt an den Leser. Sie bezieht ihn in ihre eigene
Ratlosigkeit ein und in das Nachdenken darüber, ob und
wie es Lisa gelingen kann, die sozial und geistig
minderbemittelten Gewalttäter – durch vernünftiges
Miteinander-Reden - zu stoppen. Dazu bietet sie
alternative Handlungsverläufe an und wählt nach
mehreren Versuchen schließlich ein Ende, das mit
„Barmherzigkeit“ überschrieben sein könnte: Lisa
sitzt am Krankenhausbett eines der Täter, der von
seinen Kumpeln zusammengeschlagen worden ist.
„Vorsichtig schob Lisa ihre Hand unter die des
Jungen… Sie legte einen Finger auf die Lippen. `Nicht
reden` formte ihr Mund lautlos. Martin ließ die Augen
wieder zufallen. Seine Hand in der Rechten Lisas zuckte
ein wenig. Lisa beugte sich noch weiter vor und wölbte
ihre Linke über die beiden Hände als besiegele sie
einen Pakt.“
Auch Barmherzigkeit und Erbarmen sind „Liebesarten“
Erika Pillardy, 15. Okt. 2006
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