Es
vergeht kaum ein Tag, an dem in den Medien nicht von
sexuellen Übergriffen auf Kinder berichteten wird.
Zumeist stehen jedoch die Täter im Vordergrund der
Berichterstattung. An ihnen wird vorgeführt, in welchem
Stadium des moralischen Verfalls sich die Gesellschaft
befindet. Nur selten wird die tragische Geschichte der
Opfer erzählt und wenn doch, so bleiben die Fragen an
der Oberfläche. Vorgeführt wird, was zu Tränen
rührt.
Diesem bedenklichen Trend steuert nun der Stuttgarter
Klett-Cotta Verlag mit der Veröffentlichung des Buches
"Ich werde es sagen" des Dänen Kristian
Ditlev Jensen entgegen. Jensen erzählt darin die
autobiographische Geschichte seines Mißbrauchs und der
damit verbundenen Traumata, deren Folgen er bis in sein
Erwachsenenleben spürt.
"Bisher kam in meinem Leben das Paradies vor der
Hölle", so beginnt Jensen eines der ersten
Kapitel, in dem er von einer Zeit erzählt, die er aus
heutiger Sicht zu seiner glücklichsten zählt, die Zeit
vor dem Mißbrauch.
Er und seine Eltern lebten in einfachen Verhältnissen
in einem Sozialbauwohnung am Stadtrand von Holbaek. Zwar
war der kleine Kristian oft sich selbst überlassen,
weil seine Eltern arbeiteten, doch gemessen an dem, was
er an physischen und psychischen Grausamkeiten in den
folgenden Jahren erleben mußte, waren all die
Entbehrungen der Kindheit in der Rückschau vollkommen
unwichtig.
Das Unheil nahm seinen Anfang mit einer Urlaubreise in
die Provence. Kristian war damals neun Jahre alt, als
die Familie seines Freundes Nikolaj ihn fragte, ob er
seine Ferien nicht mit ihnen in Südfrankreich
verbringen möchte. Da Kristians Eltern ihrem Sohn diese
Reise nie hätten ermöglichen können, stimmten sie zu.
Wohl auch deshalb, weil sie ihren Jungen in guten
Händen glaubten.
Nikolajs
Familie wurde von Gustav, einem Graphiker aus
Kopenhagen, begleitet. Anfänglich war Kristian von
diesem Mann abgestoßen und begeistert zugleich. War er
doch so ganz anders, als sein Vater. Hinzu kam, daß
Kristian seinen ersten Urlaub als eine Art
"Sinnenexplosion" empfand, so gewaltig hob
sich das Erlebte vom grauen Alltag seines Zuhauses
ab.
In diesen vierzehn Tagen trat Gustav als Freund und
Beschützer Kristians auf und der genoß die
Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde. Wieder Zuhause,
empfand er die vertraute Welt als Bruch zu der neuen
Welt, die sich ihm in den vergangenen Tagen offenbart
hatte. Trotz seiner Begeisterung blieben seine Eltern
unbeeindruckt von all dem Phantastischen, daß ihr Sohn
erlebt hatte.
Als Kristian von seinem Vater im darauffolgenden Herbst
das erste Mal zu Gustav nach Kopenhagen gebracht wurde,
um dort ein Wochenende zu verleben, waren die Freude
über das Wiedersehen und die Erwartungen riesengroß.
Gustav lebte in einem ziemlichen Chaos, doch störte
dies Kristian wenig. Sogar seine Zähne mußte er nicht
putzen, als sie am Abend zu Bett gingen. Nur ein wenig
irritierte es ihn, als sein erwachsener Freund darauf
bestand, daß sie nackt schlafen würden.
Nach dieser Nacht sollte nichts mehr so sein wie es
vorher war, denn Kristian mußte zusehen, wie Gustav
masturbierend neben ihm lag und so tat, als wäre es die
normalste Sache auf der Welt. Fortan wird Kristian in
seinen Gefühlen hin- und hergerissen. Er weiß nicht
mehr, was er denken soll. Tief im Inneren sträubt sich
alles gegen das, was Gustav nun von ihm will. Obwohl die
Übergriffe immer häufiger werden, kann sich Kristian
nicht wehren. Zu groß ist die Verwirrung und mit wem
sollte er darüber sprechen.
Kristian
Ditlev Jensen schildert im Folgenden ein drei Jahre währendes
Martyrium, dessen Folgen an seiner Seele und Psyche noch
heute nachwirken. Dieses Buch, so bemerkt es der Autor
in seinem Vorwort, soll anderen helfen, die "ebenso
pädophilem Mißbrauch ausgesetzt waren".
Jensen bewegt sich künstlerisch auf einem hohen Niveau,
immer versucht, die authentischen Gefühle eines Kindes
wiederzugeben. Stets bleibt er sachlich, obwohl das
Erlebte andere Reaktionen provoziert. So betrachtet ist
"Ich werde es sagen" kein üblicher
Erfahrungsbericht, der mit den Tätern abrechnet,
sondern eine mit literarischen Mitteln versuchte
Erkundung einer verletzten kindlichen Seele.
Bleibt die Hoffnung, daß dieses Buch viele Leser
erreicht, um das Tabuthema "Sexueller Mißbrauch
von Kindern" weiter in die Öffentlichkeit zur
rücken, um es den Tätern durch diese Form von
Aufklärung immer schwerer zu machen, Opfer zu finden.
Torsten Seewitz, 16.05.2004 |