Ist der
Literaturprofessor Yang nach seinem Schlaganfall
tatsächlich verrückt geworden? Oder haben seine Reden
an ein fiktives Publikum am Krankenbett mehr wahren und
ernsten Inhalt als der ihn pflegende Student Jian zuerst
begreift? Indem Ha Jin, der mit seinem Debütroman „Warten“
1999 für den Pulitzerpreis nominiert war, den jungen
Studenten auf die Suche nach den Ursachen des
Schlaganfalls schickt und ihn zu regelmäßigen Besuchen
bei seinem zukünftigen Schwiegervater verpflichtet,
legt der in den USA lebende Jin Stück für Stück das
chinesische Gesellschaftssystem zu Zeiten des Umbruchs
1989 frei: Die Machtspiele innerhalb der Universität,
die berechnende Karriereplanung einiger Studenten, das
von Entbehrungen geprägte Beziehungsleben junger
Menschen und die Studentenproteste auf dem Platz des
Himmlischen Friedens. Dabei ist Jins Sprache sehr
schlicht und wirkt manchmal naiv, doch genau dieser
oberflächliche Eindruck spiegelt die Ambiguität der
Geschichte wider, in der der zum Pflegefall gewordene
Professor wegen seiner angeblichen Verrücktheit mehr
Rede- und Handlungsfreiheit hat, als er vorher je hätte
haben können. Ein kluges Buch, das tiefe Einblicke in
den Alltag gibt und die individuelle Befreiung aus
ideologischen Zwängen spannend beschreibt. Text: Aliki
Nassoufis |