Früher,
dass heißt zu Zeiten, als es die DDR noch gab, hat sie
verschlüsselte Botschaften in historische Biographien
versteckt. Mit dem Untergang des Staates, der einmal
ihre Heimat war, kam die lang ersehnte Freiheit alles
sagen zu dürfen, nichts mehr chiffrieren zu müssen, in
jedes beliebige Land der Welt zu reisen.
Doch wie geht man mit diesem neugewonnenen Gefühl des
selbstbestimmten Lebens um, vor allem, wenn man ein
Alter von fünfzig Jahren erreicht hat?
Monika Maron widmet sich dieser Frage in ihrem neuen
Roman mit dem beziehungsreichen Titel
"Endmoränen" auf sehr subtile Weise. Johanna,
ihre Protagonistin, hat den Beginn des Herbstes lange
Zeit als Zumutung empfunden. Seit einigen Jahren erlebt
sie die Veränderungen in der Landschaft aus einer neuen
Sicht. So wie sich die eigene Biographie in gewisse
Abschnitte einteilen lässt, projiziert sie den Wechsel
der Jahreszeiten auf die Hoffnung, dass sich auch ihr
Leben ändern möge. Was bleibt an Hoffnung auf einen
Neuanfang, wenn man sich der Tatsache gewiss ist, nur
noch zwanzig oder dreißig Jahre zu leben? Dies sei doch
noch eine lange Zeit, möge der Leser dagegenhalten,
doch erlebt Johanna diese Erkenntnis voller Schrecken.
Fast lähmend beschleicht sie das Gefühl, alt geworden
zu sein ohne richtig gelebt zu haben.
Einer Endmoräne gleich hat sich der Lebensschutt über
Jahrzehnte vor ihr aufgetürmt; all die Hoffnungen und
Sehnsüchte, die enttäuschten Liebschaften, die Träume
von einem glücklichen Leben.
Die Zeit, als Johanna mit ihrem Mann in einem kleinen
Ort mit Namen Basekow ein altes Häuschen kaufte und
dieses unter großen Schwierigkeiten ausbaute, erlebte
sie in ihrer Erinnerung als eine glückliche Zeit.
Irgendwann erhielt diese heile Welt Risse, Johanna weiß
nicht mehr genau wann, doch es war zum Ende eines
Sommers, den sie ihrer Jugend zurechnete. Jetzt, Jahre
später, erlebt sie die Gegenwart, nahezu depressiv
gestimmt als hoffungslos. Wehmütig erinnert sie sich
der Freundschaften zu Irene und Christian. Irene sei
kürzlich gestorben, erfuhr sie von deren Verwandten.
Irgendwann hat sie die Nähe zu ihr nicht mehr ertragen,
lange Zeit jeden Kontakt vermieden. Jetzt, nach ihrem
Tod, tauchen die Bilder ihrer Freundschaft wieder auf,
ungetrübt, nahezu wehmütig
Ähnlich ergeht es ihr mit Christian, einem ehemals
erfolgreichen Lektor in einem Münchner
Wissenschaftsverlag, den sie bereits zu DDR-Zeiten
kennen lernte. Beider Leben verliefen scheinbar
parallel, erfolgreich in ihren Verlagen, jeweils in
eingefahrenen Beziehungen lebend, bekam ihre berufliche
Karriere mit der Vereinigung beider deutscher Staaten
einen Knick. Christians Verlag wurde radikal verkleinert
und schrumpfte in seiner Bedeutung zusehends, Johanna
hatte nun ein Problem mit dem Recht der freien
Meinungsäußerung in schriftstellerischer Hinsicht.
Hier bringt Monika Maron ein Problem vieler
DDR-Intellektueller zur Sprache, denen das geistige
Fundament entzogen worden war. Aus den Gedankennischen
in einem totalitären System wurden Freiräume der
geistigen Kultur, die mit neuen Inhalten gefüllt werden
wollten.
Ein wenig erinnert mich Monika Marons Roman in seiner
Wehmütigkeit an Christa Wolfs "Sommerstück",
in welchem sie auf ähnlich eindringliche Weise dem
Verlust der geistigen Heimat nachspürt.
"Endmoränen" gehört aus meiner Sicht zu
einer der wichtigsten Neuerscheinungen deutschsprachiger
Autoren dieses Bücherherbstes. Stilistisch glänzend
geschrieben und äußerst feinfühlig erzählt, setzt
Monika Maron ein unheimlich klares Gegenbild der
älteren Generation zu den aktuellen Veröffentlichungen
jüngerer Autoren, die ihre Erfahrungen mit dem Staat
DDR in Worte zu fassen versuchen. ©Torsten Seewitz,
05.11.2002 |