Die
Welt des kleinen Anton entspricht so ganz dem Paradies
der Kindertage, welches wir so gern, erwachsen geworden,
erinnern. Behütet aufgewachsen im Schoß einer
Großfamilie, ist er der ganze Stolz seiner Eltern und
als Einzelkind der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Bis
zu jenem Tag, als Robert, sein Cousin, im Nachbarzimmer
für unbestimmte Zeit einzog. Plötzlich war alles
anders und Anton fühlte sich sonderbar angezogen und
zugleich abgestoßen von dem Älteren, der so gar nicht
mehr der Rüpel war,
als den er ihn aus Kindertagen in Erinnerung hatte.
Robert spielte Fußball, interessierte sich für
Mädchen und achtete sehr auf sein Äußeres. Alles
Dinge, die Anton weniger beeindruckten. Viel lieber zog
er sich zurück, um zu träumen oder er beobachtete
einfach die Welt um sich herum.
Obgleich sein Cousin sicherlich den Anstoß gab, über
sein Andersein nachzudenken, fand Anton erst in Willem
einen Verbündeten. Willem war ein Klassenkammerad, den
er in der neuen Schule, die er seit Sommer in der
nahegelegenen Stadt besuchte, kennen lernte. Beide
verstanden sich vom ersten Tag an, auch ohne viele
Worte. Es war wohl so etwas, was man gemeinhin als
Seelenverwandtschaft bezeichnet. Doch vielleicht war es
auch mehr, denn Anton entdeckte Gefühle in sich, von
denen er bislang keine Ahnung hatte, daß sie in seinem
Inneren verborgen lagen. Auf sonderbare Weise fühlte er
sich von Willem angezogen, der ein so ganz anderes Leben
gewohnt war. Aufgewachsen im Reichtum hatte er eine
andere Art, die Welt zu betrachten, weniger verträumt
als Anton dies tat.
Wie
bereits in seinem Erstling "Marcel"
erzählt Erwin Mortier in "Meine zweite Haut"
die Geschichte eines jungen Mannes, der versucht seinen
Platz in der Erwachsenenwelt zu finden. Er
begleitet seinen Protagonisten Anton von der Kindheit
bis ins Erwachsenenalter und läßt mit zauberhaften
Bildern eine Welt auferstehen, die die innere
Entwicklung seines Helden auf eindringliche Weise
sichtbar macht. Nie wird Mortier pathetisch oder
unglaubwürdig. Im Gegenteil, entwickelt sich doch beim
Lesen eine ungeheure Empathie für seinen Helden. Selten
ist so zärtlich vom Erwachen der Gefühle und der
ersten Liebe zu einem Mann geschrieben worden.
Torsten Seewitz, 16.05.2004 |