Als
Dorst merkte, dass niemand es mochte, wenn er die
Wahrheit sagte, begann er zu schweigen. Seit seinen
Kindertagen galt er den Anderen als ein Träumer und
Einzelgänger. Seine Mutter, die sehr wohl sein
sonderliches Wesen erkannte, schickte ihn zum
Nachbarjungen Gregor, damit dieser mit ihm spielen
sollte. Doch glücklich war Dorst nie. Er hoffte stets,
seine Mutter bemerke nicht, dass er den Nachmittag
wieder allein verbrachte.
Erst als er die junge Elner kennen lernte, schien der
Schutzpanzer, der ihn umgab, etwas durchlässiger
zu werden. Sie war die einzige, die ehrlich versuchte,
seine Eigenarten zu akzeptieren, wenn auch manchmal am
Rande des Nervenzusammenbruchs. Aber Dorst konnte sich
nicht anpassen. Im entscheidenden Augenblick, wenn die
Wahrheit seine Lippen verlassen wollte, sagte er stets
"Ich muss los!". Aufgrund dieser Tatsache
hielt es keine der Frauen, mit denen er zuvor zusammen
war, längere Zeit mit ihm aus.
Nach seiner Kindheit befragt, gab Dorst nur unwillig
Auskunft. Zumeist sah er seinen sterbenden Vater vor
sich, der sich zu Tode hungerte und dessen Leiden seine
Mutter vor ihm zu verbergen versuchte. Nach dem Tod des
Vaters währte die Zeit der Trauer nicht lange und seine
Mutter hatte einen neuen Liebhaber, einen Herrn namens
Quoirin. Auch wenn dieser sich noch so mühte, einen
neuen Vater konnte Dorst in ihm nie sehen.
Und obgleich Dorst in der Schule kein schlechter
Schüler war, erlernte er nie einen Beruf. Viel lieber
gab er sich als Stadtführer aus, der die Touristen zu
äußerst außergewöhnlichen Sehenswürdigkeiten, wie
dem Limonadenbrunnen führte und dabei seine vor
Phantasie überbordenden Geschichten zum Besten
gab.
Annette Pehnt hat mit ihrer Figur des Dorst einen
Menschen geschaffen, den es vielleicht nur noch im Roman
gibt. Einen Tagträumer und Einzelgänger, den die
Schnelllebigkeit unserer Zeit nicht zu berühren
scheint, dem Konventionen egal sind und der sich
geschickt aus jeder Verantwortung zu nehmen versteht. Es
ist diesem Roman nicht anzumerken, dass es sich um ein
Debüt handelt, so gekonnt hat Annette Pehnt ihn
geschrieben. Dorst gehört für mich zu jenen
Romanfiguren, die einem auch nach der Lektüre noch
lange begleiten. Und was will man sich als Leser und als
Autor von einem Buch mehr wünschen, als dass es diese
Wirkung hat. © Torsten Seewitz, 04.11.2002 |