Können
Sie sich vorstellen, für eine dreiviertel Stunde
dauernde Sitzung bei einer Psychologin fünfzehnhundert
Dollar zu bezahlen? Und als wäre dies nicht genug, sie
in den Sitzungen mehr von den Problemen der Therapeutin
erfahren und Sie mit ihrem Anliegen gar nicht oder nur
zeitweise zu Wort kommen?
Diese ungewöhnliche Therapieform praktiziert Dr.
Hildegard Wolf überaus erfolgreich in Paris. Kaum zu
glauben, aber sie gehört mit diesem ungewöhnlichen
Verfahren zu den gefragtesten Mitgliedern ihrer Zunft.
Obgleich viele ihrer Patienten bereits nach den ersten
Therapiestunden genug von den Monologen der Frau Dr.Wolf
haben, kommt ein nicht geringer Teil ihrer Patienten,
wohl mehr fasziniert als von der eigenen Heilung
überzeugt, wieder.
So auch ein gewisser Lord Lucan, genannt Lucky, der ein
gewissen Bekanntheitsgrad als berühmt-berüchtigter
Nanny-Mörder genoß, doch seit Jahren als verschollen
galt. Als dann wenig später ein Doppelgänger Lord
Lucans auftaucht und behauptete, er sei der richtige
Lord, schien die Verwirrung in der Wolf'schen Praxis
perfekt. Aus therapeutischer Sicht sah Frau Dr.Wolf kein
Problem auf sich zukommen, vielmehr begann der Fall des
vermeintlichen Mörders und seines Doubles sie zu
interessieren.
Prekär wurden die Therapiestunden erst, als einer der
beiden angab, gut über ihr Vorleben Bescheid zu wissen.
Sollte wirklich jemand erfahren haben, dass sie in ihren
Jugendjahren als angeblich Stigmatisierte unzählige
Gläubige hinters Licht führte?
Wer bereits mehrere Bücher Muriel Sparks gelesen hat,
weiß, daß sie es vortrefflich versteht, ihre
Geschichten mit abgründigem, ja schwarzem Humor zu
erzählen. In einer Art Vorwort erläutert sie, daß die
von ihr in diesem Roman verwendete Geschichte in den
Grundzügen tatsächlich so geschehen sei. Und
irgendjemand mußte einmal erklären, wie der als
Nanny-Mörder bekannte Lord Lucan nach Zentralafrika kam
und dort zu einem gewissen Bekanntheitsgrad erlangte.
Dass, was auf dem ersten Blick der Grundkonstellation
eines Kriminalromans entspricht, entwickelt sich im
Laufe der Handlung zu einer immer skurriler werdenden
Geschichte mit einem noch absurderem Ende. Muriel Spark
beweist mit diesem Roman, dass sie die Kunst des
Erzählens perfekt beherrscht und das die Lektüre ihrer
Bücher, gerade für Freunde des typisch britischen
Humors, ein Genuss sondergleichen darstellt. ©Torsten
Seewitz, 11.11.2003 |