Als im
Jahr 2000 Polen als Schwerpunktland der Frankfurter
Buchmesse auftrat, gehörte sie zu den Entdeckungen des
Bücherherbstes, Olga Tokarczuk, Jahrgang 1962. Es waren
Bücher wie "Der Schrank", eine Sammlung von
Erzählungen, und ihr Roman "Ur und andere
Zeiten", mit denen sie eindrucksvoll ihr Talent
unter Beweis stellte. Im vorliegenden Roman
"Taghaus Nachthaus" aus dem Jahre 1998
erzählt sie nun wiederum eine Geschichte, die
kunstfertig, und dies ist typisch für Olga Tokarczuk,
die Realität mit der phantasievollen Welt der Träume
und Märchen verbindet.
Tokarczuks Buch ist kein Roman im herkömmlichen Sinn,
denn er besitzt keine fortlaufenden Handlungsstrang.
Vielmehr reihen sich einzelne Geschichten, Bilder und
Gedanken zu einem Gesamtbild der niederschlesischen
Historie. In langen Gesprächen bewegen sich die
Ich - Erzählerin und ihre alte Nachbarin Marta tief
hinein in eine Welt voll unglaublicher
Begebenheiten. Immer sind die Ausgangspunkte ihrer
Erinnerungen das kleine Dorf in dem sie leben und die
Stadt Nowa Ruda.
Und die alte Marta hat viel erlebt während ihres langen
Lebens, obgleich sie ihr kleines Dorf nur selten
verlassen hat, denn sie hält Reisen für sinnlos.
Und dennoch hat sie viel zu erzählen, obgleich nicht
immer zu unterscheiden ist, inwieweit sie Dichtung und
Wahrheit auseinander hält. Gespannt hört ihre junge
Nachbarin, die Hinzugezogene, ihren Geschichten um den
ehemaligen Adligen und Mystikforscher von Goetzen zu,
der vor der russischen Armee flüchtend, sein Anwesen
verlassen musste oder von dem alternden Deutschen, der
zum Sterben in seine alte Heimat zurückgekehrt war und
auf der grünen Grenze zwischen Polen und Tschechien
starb. Besonders makaber erscheint gerade diese
Erzählung, denn die überforderten Grenzwächter
schoben seinen Leichnam abwechselnd von der einen
Landeseite auf die andere, nur damit sie nicht mit den
Formalitäten, die ein Toter mit sich bringt,
konfrontiert werden.
Lebendig erscheinen die Episoden von den deutschen
"Touristen", die Vertriebenen, die ihre alte
Anwesen für ihre Enkel fotografieren. Aus reiner
Großherzigkeit "füttern" sie dann die
einheimischen Kinder mit Bonbons, eine Beleidigung für
die Einheimischen.
Besonders hervor sticht die zentrale Erzählung über
die Volksheilige Kümmernis (Wilgefortis) und die des
jungen Novizen Paschalis, der ihre Vita zu Papier
bringen möchte. Eindrucksvoll dargestellt, bekommt der
Leser hier einen Einblick in die an Mythen reiche Welt
Schlesiens. Einer Welt, die Olga Tokarczuk ausreichend
Stoff für ihr phantasievollen und brillant erzählten
Geschichten gibt. ©Torsten Seewitz, 1.10.2002 |