Manchmal bedarf es nur einer Kleinigkeit,
um längst verdrängt geglaubte Gedanken wieder an die Oberfläche unseres
Bewußtseins zu befördern. Dies kann ein unerwartetes Erlebnis sein, eine
winzige Irritation in unserem Alltag.
Inmitten des belebten Amsterdams wird Saskia van Ammer von einem Radfahrer
angefahren. In einer Stadt, in der das Fahrrad zu den Hauptverkehrsmitteln
zählt, sicherlich keine
Seltenheit, doch läßt dieser Vorfall ihr Leben aus den Fugen geraten. Zehn
Jahre sind seit dem vermeintlichen Suizid ihrer Zwillingsschwester Klara
vergangen. Jahre, in denen sie den Tod ihrer Schwester verarbeitet glaubte.
Plötzlich rissen die alten Wunden wieder auf. All die verblaßten Erinnerungen
an jenen Tag vor zehn Jahren, als man das auf einer Brücke abgestellte,
verlassene Auto Klaras fand und die Polizei die Leichen der ehemaligen Freundin
Klaras, Desirée Cronenfeldt und ihres Geliebten Erik von Rensen entdeckte,
bekamen wieder Konturen. Nach Jahren ergebnislosen Ermittelns hatten die
Kriminalbeamten die Suche nach Klara und dem Mörder Desirées und Eriks
eingestellt. Zudem wurde Klaras Leichnam nie gefunden. Hatte sie etwas mit dem
Tod der beiden zu tun? Vielleicht lebte sie noch, untergetaucht und mit neuer
Identität in einem anderen Land? Fragen, auf die Saskia nie eine Antwort fand.
Erst ein Sommerurlaub Saskias mir ihrer Familie im ehemaligen Sommerhaus ihrer
Mutter, auf einer Insel in den Stockholmer Schären, konfrontiert sie mit der
eigenen und der Vergangenheit ihrer Schwester. Auf dem Boden des alten Hauses
findet sie einen Karton mit Klaras Tagebüchern und Briefen, die immer an sie,
als geliebte Schwester gerichtet sind. Mühevoll und unter großer Überwindung
zwingt sich Saskia, die Notizen zu lesen. Tiefer und tiefer dringt sie in die
verhängnisvolle Biographie ihrer Schwester ein, die bestimmt war von der
zerstörerischen Freundschaft mit Desirée Cronenfeldt.
Doch nicht nur Saskia interessiert sich für die Geschichte ihrer Schwester. Auf
der Insel lebt seit einigen Jahren Kriminalinspektor Adolfsson a.D., der in
jenen Tagen die Ermittlungen in den drei Todesfällen leitete. Obwohl inzwischen
pensioniert, hat er die Suche nach dem Mörder und vor allem nach Klara nicht
aufgegeben. Seine scheinbar belanglosen Fragen verunsichern Saskia zutiefst.
Weiß er vielleicht mehr, als er vorzugeben scheint?
In ihrem mittlerweile dritten Roman "Klaras Tagebuch" erzählt die
junge schwedische Autorin Barbars Voors die spannende Geschichte einer
verhängnisvollen Geschwisterliebe. Was dem Leser im Gewand eines Kriminalromans
präsentiert wird, ist im Grunde genommen eine detaillierte Analyse der fatalen
Folgen zwischenmenschlicher Abhängigkeiten und politischen Abgründe des
Schwedens der 70er Jahre. Barbara Voors versteht es meisterhaft, den Leser in
ein Labyrinth von Vermutungen zu führen. Sie legt Fährten aus, denen der Leser
bereitwillig folgt, um am Ende festzustellen, daß nichts so scheint, wie
ursprünglich gedacht.
Ein äußerst lesenswertes, in der Tradition sozialkritischer Kriminalliteratur
Schwedens geschriebenes, Buch. ©Torsten Seewitz, 26.08.2000 |