Es
passiert an einem beliebigen Tag, als unschuldige
Menschen auf der Straße abgeführt werden und sich in
Viehwaggons, eng zusammengedrängt, wieder finden.
Keines der Opfer ahnt nur im Entferntesten, wohin die
Reise geht.
Nein, dies ist kein Roman über die Deportationen Millionen Unschuldiger während der Zeit des
faschistisch besetzten Europas,
sondern der Auftakt zu einer
schockierenden Satire der französisch-belgischen
Autorin Amélie Nothomb über die Folgen medialer
Verrohung.
Die Verhafteten werden in ein Lager gebracht, „ dass
denen der Nazis vor nicht allzu langer Zeit relativ ähnlich
war“, mit einem Unterschied – überall sind Überwachungskameras
installiert. Ungewollt werden sie zu Akteuren einer
TV-Show mit dem Namen „Konzentration“, denn „öde
Containergeschichten sind out“, wie ein Mitarbeiter
des produzierenden Fernsehsenders lakonisch bemerkt.
Die unschuldig Inhaftierten müssen in Baracken unter
unmenschlichen Bedingungen leben, verlieren ihren Namen,
müssen körperlich schwer arbeiten und sich von
Aufsehern erniedrigen und misshandeln lassen.
Überall sind die Fernsehkameras dabei, um das Grauen in
die Wohnzimmer einer nicht näher benannten Nation zu übertragen.
Und als wäre dies nicht bereits makaber genug, dürfen
die Zuschauer per Telefon oder Videotext täglich über
den Tod von zwei Gefangenen abstimmen.
Die Einschaltquoten betragen über 90 %, die
Intellektuellen empören sich und die Boulevardblätter
heizen die
Stimmung mit provozierenden Schlagzeilen an.
In dieses albtraumhafte Szenarium hat Amélie Nothomb
die Geschichte der beiden Frauen Pannonica und Zdena
eingebettet. Die eine Gefangene, die andere Aufseherin
und magisch angezogen von der Schönheit und Aura
Pannonicas, die trotz der widrigen Umstände um ihre Würde
und die der anderen Lagerinsassen kämpft.
Nothomb zählt zu den erfolgreichsten
Schriftstellerinnen Frankreichs und jeder ihrer Romane
polarisiert bei seinem Erscheinen das Publikum. So
wundert es nicht, dass auch „Reality-Show“ bei
seinen Lesern für Furore sorgte und die Kritikerzunft
spaltete. Doch dieses Mal fällten die Rezensenten
nahezu durchgängig ein vernichtendes Urteil. Zum
Beispiel warf
ein Literaturkritiker des „Le Parisien“ ihr vor, mit
„Relality-Show“ den Holocaust zu banalisieren und
nannte das Buch einen „ekelerregenden
Marketing-Gag“.
Zugegeben, Nothombs Stil ist Geschmackssache und ihre hölzerne
Figurenzeichnung und Dramaturgie schmälern das
Leseerlebnis, doch trifft sie mit ihrer Satire in das
Herz einer zunehmend degenerierten TV-Nation.
In Zeiten, in denen Fernsehsender nicht müde werden, überholte
Formate wie „Big brother“ in zahlreichen Auflagen
wiederzubeleben, die Zuschauer jedoch nicht wie erwartet
zuhauf vor den Bildschirmen sitzen, muss man sich
berechtigt fragen, was Produzenten demnächst einfällt,
um verlorenes Terrain wiederzugewinnen.
„Reality-Show“ ist eine Provokation, eine längst überfällige.
Doch leider wird sie nicht diejenigen erreichen, die
provoziert und wachgerüttelt werden müssten. Torsten
Seewitz, 26.02.2007
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