In
den letzten Wochen war plötzlich das unbequeme Thema
„Altenpflege“ in allen renommierten TV-Polit-Talks
angesagt. Der Auslöser dafür könnte das Ende Februar
erschienene Aufklärungs- und Anklagebuch „Wohin mit
Vater?“ sein, in dem der Autor (ein anonymer
investigativer Journalist) seine persönlichen
Erfahrungen mit recherchierten Fakten verbindet. Er lässt
uns teilhaben an seinen Erlebnissen und inneren
Konflikten bei der vergeblichen Suche nach einer
akzeptablen und bezahlbaren Betreuung für seinen
pflegebedürftigen Vater. Schuldbewusst
erkennt er, dass er die Problematik bis zum
Ernstfall-Tag X ebenso ignoriert und verdrängt hat,
wie wir es wohl alle tun.
Ein sofort verfügbarer Pflegeplatz wird „dem Sohn“
nur in privaten Pflegeheimen angeboten, in denen er in
Mehrbettzimmern dahin siechende Elendsgestalten
antrifft: in nassen, stinkenden Windelpaketen wund
gelegen; unzureichend ernährt und ausgetrocknet; mit
Psychopharmaka ruhig gestellt und ohne menschliche
Zuwendung. Ein Szenarium des Grauens, das er seinem
Vater nicht zumuten will. Trotz der inneren Distanz, die
er und seine Schwester zu dem Vater haben, trotz ihrer
Berufstätigkeit und trotz ihrer Pflichten gegenüber
ihren eigenen Familien erwägen sie, den Vater bei sich
aufzunehmen. Sie
quälen sich
mit Gewissensbissen und Schuldgefühlen, als sie sich
eingestehen, dass sie sich und ihren Familien die
psychisch, physisch und sozial überfordernde Pflege
nicht aufbürgen können. Schließlich finden sie eine Lösung,
die wie eine Erlösung aussieht: Der Vater kann in
seiner vertrauten häuslichen Umgebung bleiben, nachdem
für seine Betreuung die aus Polen importierte Pflegerin
Teresa gefunden worden ist. Die Ganztagsbetreuung durch
sie kostet nur 1100 € im Monat, während die
Inanspruchnahme eines professionellen
24-Stunden-Pflege-Dienstes in Deutschland 10.000 €
kosten würde. Staunend verfolgen die Geschwister, wie
es dieser Frau gelingt, den Vater zu aktivieren und ihm
damit neue Lebensfreude zu schenken. Doch ein Happyend
ist es trotzdem nicht. Denn nach deutschem Recht ist
dieser Import illegal und wird mit erheblichen Geldbußen
bestraft – sollte er entdeckt werden. Also bleibt
„der Sohn“ anonym und plagt sich mit seiner Angst
vor dem „out“ und mit neuen Schuldgefühlen wegen
seines Rechtsbruchs (den schätzungsweise zurzeit
bereits 100.000 Familien in Deutschland begehen).
Seine subjektive Betroffenheit veranlasste den
Anonymus-Autor dazu, sich objektive Einsichten in den
deutschen Pflegebetrieb zu verschaffen und einen
Ratgeber-Anhang anzufügen. Immerhin werden aufgrund der
ständig steigenden Lebenserwartung im Jahre 2010 ca.
2,4 Millionen Menschen darauf angewiesen sein. Aufgrund
von Interviews mit Fachleuten und pflegenden Angehörigen
sowie durch die Lektüre anderer Erfahrungsberichte erfährt
er Fakten, die er zur Untermauerung seiner eigenen
Erlebnisse dem Leser in verstörender Offenheit präsentiert.
Trotz der überwiegend strengen Kontrollen der MDK gibt
es wie bei allen Behörden „schwarze Schafe“. Sie kontrollieren
die Einhaltung ihres Pflegeschlüssels gar nicht oder
tauchen erst nach vorheriger Anmeldung auf. So entstehen
Spielräume, in denen verantwortungslose
Privatunternehmer (nach dem Motto „abgezockt und tot
gepflegt“) Personalkosten einsparen. Ihre viel zu
knappen Pflegekräfte sind hoffnungslos überlastet,
gestresst und frustriert, was sich in einem
ungeduldig-aggressiven Umgangston gegenüber den
Pflegebedürftigen und in hoher Personalfluktuation äußert.
Natürlich gibt es gut geführte Privatheime, wozu vor
allem die Senioren-Stifte gehören. Doch die sind teuer
und liegen häufig weit weg vom Heimatort.
Ein Buch wie „Wohin mit Vater?“ könnte dazu dienen,
die inzwischen längst überfällige Reform des
bundesdeutschen Pflegesystems in Angriff zu nehmen.
Pflegeheime sollten zukünftig mit der gleichen
Kompromisslosigkeit kontrolliert und die
Verantwortlichen bei Missständen abgestraft werden, wie
unsere Regierung das in Sachen Nichtraucher-Schutz zu
tun beabsichtigt. Erika Pillardy, 18. März 2007
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